An der Spitze des deutschen Staates vertrat der Hohenzollernkaiser ab 1888 eine klar antisemitische Haltung. Je älter er wurde, desto aggressiver agierte Wilhelm II.
Von John C. G. Röhl
01.06.2021
Als Wilhelm II. am 15. Juni 1888 mit erst 29 Jahren den Thron seiner preußischen Vorfahren bestieg, jubelten die Anhänger der antisemitischen Bewegung, denn sie sahen in dem jungen Kaiser einen Verbündeten.
Die aggressive judenfeindliche Stimmung war in Deutschland nach dem Börsenkrach der Gründerjahre 1873 aufgekommen: Der Journalist Wilhelm Marr hatte 1879 das Schlagwort »Antisemitismus« aufgebracht, im gleichen Jahr veröffentlichte der Berliner Historiker Heinrich von Treitschke seinen Aufsatz »Unsere Aussichten« mit der folgenschweren Behauptung »Die Juden sind unser Unglück«. Kurz darauf starteten Bürger eine Petition, die die Juden von allen Staatsämtern ausschließen und die Einwanderung stoppen sollte.
Nun ruhte die Hoffnung der von Berlin ausgehenden Bewegung auf dem neuen Kaiser. Der war nicht von klein auf Antisemit gewesen: Auf dem Gymnasium in Kassel war er noch gut befreundet mit einem jüdischen Klassenkameraden, mit dem er die Mützen austauschte und mittags das Butterbrot teilte. Aber seit er 1879 in das Erste Garderegiment eintrat und von den adligen Offizieren umschmeichelt wurde, war Wilhelm durch und durch »ver-Potsdammt«, wie seine Mutter entsetzt feststellte.
Sie, die deutsche Kronprinzessin Victoria, stolze Engländerin und ältestes Kind der Queen Victoria , hoffte darauf, dass der alte Kaiser Wilhelm I. endlich starb. Denn als neue Kaiserin wollte sie ihren Mann zu grundlegenden Verfassungsreformen hin zu einer parlamentarischen Monarchie nach britischem Muster bewegen. Sie setzte dafür auf die Unterstützung der liberalen Fortschrittspartei, die viele Anhänger unter der jüdischen Minderheit hatte.
Auf die Protektion durch das Kronprinzenpaar konnten sich die Juden im Land verlassen; Victoria und ihr Mann demonstrierten das mit Konzertbesuchen in den Synagogen von Wiesbaden und Berlin. Die »Engländerin« plante, mit einem erneuerten preußisch-deutschen Kaiserreich zu den moderneren, parlamentarisch regierten Ländern im Westen, Norden und Süden des Kontinents aufzuschließen.
Victorias Sohn Wilhelm hingegen verfolgte völlig andere politische Konzepte. Er träumte von einer preußisch-deutschen Militärmonarchie, das genaue Gegenteil der Pläne seiner Mutter. Auch ihre Nähe zu den jüdischen Deutschen, von Wilhelm als »Judenlümmel« beschimpft, verachtete der junge Mann: Juden verkörperten für ihn die moderne Welt, und die bedrohte in seinen Augen die Herrschaft der Hohenzollern.
Demonstrativ tat er sich als Schirmherr des Hofpredigers Adolf Stoecker hervor, einen der Hassprediger des Antisemitismus. Stoecker hatte 1879 die »Christlich-Soziale Arbeiterpartei« gegründet – »Christlich« bedeutete in diesem Zusammenhang »nicht jüdisch« oder »deutschnational«, bald darauf erfand man dafür den Begriff »arisch«. Auf einer Massenveranstaltung 1881 bezeichnete Stoecker die Juden als einen »fremden Tropfen in unserem Blut«. Er forderte den »Existenzkampf« gegen sie, den Krieg »von Rasse gegen Rasse«. »Wir bieten den Juden den Kampf an bis zum völligen Siege«, bis die Juden »heruntergestürzt sind in den Staub, wohin sie gehören«. Berlin müsse eine Hohenzollernstadt bleiben und dürfe keine Judenstadt werden.
An seinen Großvater, den alten Kaiser, schrieb Prinz Wilhelm am 5. August 1885, offenbar in der Zuversicht, dass der von ihm so hochverehrte Monarch seine Einstellung teilen würde:
»Du wirst … gelesen und gehört haben von der ganz unverantwortlichen und verwerflichen Weise, in welcher das gesammte Judenthum des Reiches, durch seine verdammte Presse unterstützt, sich auf den armen Stöcker gestürzt und ihn mit Beleidigungen, Verläumdungen und Schmähungen überhäuft hat … Man glaubt es nicht, daß in unsrer Zeit solch ein Haufen Gemeinheit, Lüge und Bosheit sich zusammenfinden kann … Von allen Seiten brieflich aus der Ferne und Nähe tönt es mir entgegen ›Ist der Kaiser davon orientiert? Weiß er wie es steht?‹ … Stöcker ist … die mächtigste Stütze, ist der tapferste, rücksichtsloseste Kämpfer für Deine Monarchie und Deinen Thron im Volk! … O lieber Großpapa, es ist empörend wenn man beobachtet wie in unserem christlichen, deutschen, gut preußischen Lande das Judenthum in der schamlosesten, frechsten Weise sich erkühnt, alles verdrehend und corrumpirend sich an solche Männer heran zu wagen und sie zu stürzen sucht.«
Dieser handschriftliche Brief Wilhelms, der im Hausarchiv der Hohenzollern in Berlin aufbewahrt wird, war kein einmaliger Ausrutscher eines aufgebrachten Jünglings, er zeigt die antisemitische Einstellung Wilhelms, die immer deutlicher hervortrat.
Zwei Jahre nach dem Stoecker-Brief löste Wilhelm weltweit einen Sturm der Entrüstung aus, als er im Hause des stellvertretenden Chefs des Generalstabs Graf Alfred von Waldersee eine Versammlung zur Unterstützung der »Christlich-Sozialen« Mission Stoeckers eröffnete. Dabei lobte er den Hofprediger mit leuchtenden Augen als »zweiten Luther«. Nach der Versammlung erzählte Wilhelm dem Sohn von Reichskanzler Bismarck von seiner Rede – der reagierte ebenso entsetzt wie Vater Bismarck.
Schon zu dieser Zeit war allen klar, was eine Thronbesteigung Wilhelms II. bedeuten würde, nicht allein für die Juden Deutschlands, sondern für die aufstrebenden demokratischen Kräfte in aller Welt: Ein militärversessener konservativer Monarch mit großer Nähe zu den organisierten Antisemiten als Oberhaupt Deutschlands, das musste auf viele bedrohlich wirken. In seinem Tagebuch notierte der erzreaktionäre Graf Waldersee 1887, die Juden fürchteten den Prinzen Wilhelm, »vor dem sich übrigens alle unsere Feinde wie Franzosen, Russen, Fortschrittler und Sozial Demokraten fürchten«.
Nachdem sein Großvater Wilhelm I. und sein Vater Friedrich III. 1888 kurz nacheinander gestorben waren , kam Wilhelm II. auf den Thron – und räumte sämtliche liberalen Pläne seiner Mutter Victoria ab. Wilhelm schwebte ein »persönliches Regiment« vor, das die parlamentarischen Kräfte des Landes weiter zurückdrängen sollte. Auch ein starker Reichskanzler wie Otto von Bismarck stand dem im Weg.
Die Auseinandersetzung wegen der »Stoeckerei« war nur einer von vielen Konflikten zwischen dem jungen Kaiser und seinem machtgewohnten Reichskanzler. Am 15. März 1890 kam es zu der ultimativen Aufforderung, Bismarck habe umgehend seine Entlassung einzureichen. Der Reichskanzler hatte es gewagt, mit Ludwig Windthorst, dem Führer der nunmehr im Reichstag ausschlaggebenden katholischen Zentrumsfraktion, Verhandlungen aufzunehmen, und das ausgerechnet durch die Vermittlung seines jüdischen Bankers Gerson Bleichröder.
Verhandlungen »mit den Jesuiten und den reichen Juden«! Das ging dem Monarchen und seinen Souffleuren, Waldersee und Philipp zu Eulenburg, entschieden zu weit.
Die Wahnvorstellung von einer Weltverschwörung der Katholiken und Juden gegen die Hohenzollernmonarchie von Gottes Gnaden wurde zur fixen Idee. Insbesondere Eulenburg, Diplomat und enger Freund des Kaisers, prägte Wilhelms Vorstellungen. Als Ordensritter mit dem schwarz-weißen Wappen Preußens im Schilde glaubte der Kaiser nun, den heiligen Kampf gegen alle Feinde der Monarchie führen zu müssen.
Im Jahr 1901 brachte Eulenburg den Kaiser mit Houston Stewart Chamberlain zusammen, Schwiegersohn des Monumentalkomponisten Richard Wagner. 1899 hatte Chamberlain das Werk »Die Grundlagen des Neunzehnten Jahrhunderts« veröffentlicht, das zu einer Grundlagenschrift des rassistischen Antisemitismus wurde und das auch Wilhelm kannte. Nun erläuterte Chamberlain dem Monarchen die heilige Kulturmission, zu der dieser berufen sei: Das deutsche Kaiserreich sei das Herz Europas, Preußen das Herz Deutschlands, die Armee das Herz Preußens und die Hohenzollernmonarchie das Herz der Armee.
Dieses Weltbild aus Imperialismus, Chauvinismus und Militarismus beschleunigte die Dynamik, die Deutschland und Europa von 1914 an in den Ersten Weltkrieg riss. Doch Wilhelm und seine Berater schoben die Ursachen auf ein obskures Verschwörungskomplott: 1917 erklärte Chamberlain dem Kaiser per Brief, dass der Erste Weltkrieg »im tiefsten Grund der Krieg des Judentums und des ihm naheverwandten Amerikanertums um die Beherrschung der Welt« sei. »Der Jude und der Yankee sind die treibenden Mächte« hinter dem Krieg, beteuerte Chamberlain.
Der Kaiser stimmte dem Rassenfanatiker zu und antwortete wie ein Echo: »Der Krieg ist der Kampf zwischen 2 Weltanschauungen: der germanisch-deutschen für Sitte, Recht, Treue u. Glauben, wahre Humanität, Wahrheit und echte Freiheit, gegen die Angel-Sächsische, Mammonsdienst, Geldmacht, Genuß, Landgier, Lüge, Verrath, Trug, und nicht zuletzt Meuchelmord.« Eine dieser beiden Weltanschauungen müsse siegen, die andere untergehen: »Darum vorwärts mit Gott! Und wenn die Welt voll Teufel wär!«
Schnelles Wissen: Was war die »Judenzählung« im Ersten Weltkrieg?
Viele deutsche Juden hofften, durch den Kriegsdienst ihre patriotische Gesinnung beweisen zu können und gesellschaftliche Anerkennung zu erreichen. Häufig wurde ihnen von Antisemiten jedoch »Drückebergerei« vorgeworfen. So kam es 1916 zur »Nachweisung der beim Heere befindlichen wehrpflichtigen Juden«. Die Erhebung zeigte zwar, dass Juden sich keineswegs drückten, bewirkte jedoch das Gegenteil, da die Ergebnisse nicht veröffentlicht wurden. Die jüdischen Soldaten fühlten sich von dem Land verraten, für das sie ihr Leben einsetzten.
Kein Wunder also, dass sich Wilhelm II. seinen jähen Sturz vom Throne im November 1918 nur als »Verrath des von dem Judengesindel getäuschten belogenen Deutschen Volkes gegen Herrscherhaus u. Heer« erklären konnte. Nach der Flucht ins holländische Exil dürstete er nach Rache.
Nun, im Exil, nahm der Antisemitismus Wilhelms geradezu mörderische Züge an. Bereits am 2. Dezember 1919 schrieb der gestürzte Kaiser dem Generalfeldmarschall August von Mackensen eigenhändig: »Die tiefste und gemeinste Schande, die je ein Volk in der Geschichte fertiggebracht, die Deutschen haben sie verübt an sich selbst. Angehetzt und verführt durch den ihnen verhaßten Stamm Juda, der Gastrecht bei ihnen genoß. Das war sein Dank! Kein Deutscher vergesse das je, und ruhe nicht bis diese Schmarotzer vom Deutschen Boden vertilgt und ausgerottet sind! Dieser Giftpilz am Deutschen Eichbaum!«
Im November 1919 lobte der frühere Kaiser Artur Dinters infamen Erfolgsroman »Die Sünde wider das Blut«, der die schrecklichen Folgen einer Liebesbeziehung zwischen einem »arischen« Mädchen und einem Juden schildert. Seinem Leibarzt Alfred Haehner gestand Wilhelm offen, »dass auch er jetzt nach all den Ereignissen ein erbitterter Judenfeind geworden wäre«.
Haehner stellte fest: »Der Kaiser ist besonders durch die Lektüre des Dinterschen Buches, für das er sehr Propaganda macht, in seine scharfe Stellung gegen das Judentum gebracht worden, er wurde dadurch, wie er selber sagte, ein starker und überzeugter Antisemit.«
Haehner, ein Arzt aus dem Rheinland, erlebte als Augen- und Ohrenzeuge aus unmittelbarer Nähe die intimsten Vorgänge am kaiserlichen Exilhof in Amerongen und Doorn. Vieles davon hielt er in seinem Tagebuch fest. Doch nach dem Zweiten Weltkrieg gerieten seine Aufzeichnungen in Vergessenheit, die Kladden blieben unbenutzt im Kölner Stadtarchiv – und wären beim Einsturz des Archivs 2009 beinahe verloren gegangen. Doch sie konnten gerettet werden und sind heute eine der wichtigsten Quellen für Wilhelms Einstellungen und Ansichten im Exil.
Dessen Hass steigerte sich immer weiter, das brachten auch andere zu Papier, die mit Wilhelm zu tun hatten. Der ehemalige Flügeladjutant General Max von Mutius traute seinen Ohren nicht, als ihm der Exilmonarch im Dezember 1920 in Doorn erklärte, »die Welt würde nicht eher Ruhe haben und besonders Deutschland nicht, bis nicht alle Juden tot geschlagen oder wenigstens des Landes verwiesen wären«. Als der General einwandte, das werde »ja nun leider nicht gehen, sie alle tot zu schlagen«, habe Wilhelm erregt erwidert: »Liebes Kind, das kann ich und werde ich tun. Das will ich Ihnen schon zeigen.«
Im März 1921 erläuterte Wilhelm seinem Gefolge, wie sich »die Juden« angeblich gegenseitig den »deutschen Hasen« zutreiben würden. Leibarzt Haehner zeichnete auf: »Die engl[ischen], franz[ösischen] und deutschen Juden steckten alle unter einer Decke. Ihnen komme es nur darauf an, die Judenherrschaft in der Welt aufzurichten. Daher müßten sie erst das deutsche Volk vollständig versklaven … Wenn wieder einmal andere Zeiten in Deutschland kämen, müßten die Juden gehörig daran glauben … Alles müßten sie hergeben, ihre Sammlungen, ihre Häuser, jedweden Besitz. Aus allen Beamtenstellungen müßten sie ein für alle Mal entfernt werden, sie müßten vollkommen zu Boden geworfen werden.«
Zur Lektüre des Kaisers im Haus Doorn gehörte auch das Hetzpamphlet »Weltfreimauerei, Weltrevolution, Weltrepublik« des Wiener Hofrats Friedrich Wichtl, in dem die notorische Fälschung »Die Protokolle der Weisen von Zion« als wahrheitsgetreue Entlarvung jüdischer Absichten dargestellt wurde. Als 1921 in Doorn die Nachricht von Wichtls Tod eintraf, war für den Kaiser die Sache klar: Wichtl sei »von jüdischen Freimaurern umgebracht« worden. Die Juden hätten deshalb eine »rasende Wut« auf Wichtl gehabt, »weil er all ihre Geheimnisse aufgedeckt« hätte.
Nachdem er Chamberlains fundamentalchristliche Schrift »Mensch und Gott« gelesen hatte, bezeichnete Wilhelm die »verjudete Weltpresse« als »Machwerk des Satans« und erklärte seinem verdutzten Leibarzt wieder einmal: »Die ganzen Juden müssten aus der Presse heraus, keiner mehr dürfe sein Gift darin wirken lassen, ich solle einmal sehen, wenn er [auf den Thron] zurückkomme, was dann für ein Pogrom veranstaltet werde, aber anders und wirksamer wie alle die in Galizien!«
Seinem amerikanischen Jugendfreund Poultney Bigelow offenbarte der Ex-Kaiser 1927 in einem Brief: »Die hebräische Rasse ist mein Erz-Feind im Inland wie im Ausland; sie sind was sie sind und immer waren: Lügenschmiede und Drahtzieher von Unruhen, Revolution und Umsturz, indem sie mit Hilfe ihres vergifteten, ätzenden, satirischen Geistes Niederträchtigkeit verbreiten. Wenn die Welt einmal erwacht, muss ihnen die verdiente Strafe zugemessen werden.«
Ein Jahr darauf schimpfte Wilhelm in einer weiteren Nachricht an Bigelow, die Juden suchten »die Welt zu zerstören – so wie sie mein Land zerstören – & sie anzustecken mit dem Gift ihres niederträchtigen, sinnlichen, lüsternen, erniedrigenden Geistes, um so Herrscher über die Menschheit zu werden«.
Am 15. August 1927 schließlich schrieb Wilhelm II. in eigener Hand auf Englisch an Bigelow: »Die Presse, Juden und Mücken sind eine Pest, von der sich die Menschheit so oder so befreien muss. I believe the best would be gas?« – Ich glaube, das Beste wäre Gas?
Der schockierende Satz war weit mehr als ein burschikos gemeinter Scherz: Er offenbart die furchterregende Einstellung Wilhelms II. gegenüber den Juden. Und er zeigt deutlich die Kontinuitäten in der deutschen Geschichte vom preußisch-deutschen Kaiserreich zum »Dritten Reich«. In Hitler sah Wilhelm II. den Vollstrecker seiner Ideen.
SPIEGEL-GESCHICHTE-Autor John C. G. Röhl ist britischer Historiker und der weltweit führende Experte zu Wilhelm II. Im Verlag C. H. Beck erschien seine Biografie über den Hohenzollernkaiser in drei Bänden.