»Es hat begonnen – wollen wir ihnen in den Arsch treten?«
Simon Shuster hatte wie kein anderer Zugang zum ukrainischen Präsidenten. Lesen Sie hier exklusiv das erste Kapitel von »Vor den Augen der Welt«. Wie Wolodymyr Selenskyj Tag eins der russischen Invasion erlebte.
20.01.2024
Der US-Journalist Simon Shuster berichtet seit 15 Jahren über Russland und die Ukraine, zumeist für das »Time«-Magazin. In Moskau geboren, emigrierte er als Kind in die USA. Shuster kennt Wolodymyr Selenskyj bereits aus dessen Zeit als Comedian und Schauspieler. Über die Jahre hat er den ukrainischen Präsidenten begleitet und porträtiert. Für seine Recherchen gewährte Selenskyj dem Journalisten so offenen Zugang wie keinem anderen. Keiner aus der Präsidialadministration – weder Selenskyj noch seine Berater – haben Tagebuch geführt. »Sie waren zu sehr mit dem Krieg beschäftigt«, sagt Shuster. Aus seinen Beobachtungen hat er eine Biografie verfasst.
Seine Biografie über den ukrainischen Präsidenten »Vor den Augen der Welt« erscheint am 24. Januar im Goldmann Verlag.
Der SPIEGEL veröffentlicht in leicht gekürzter Fassung das erste Kapitel »Tagesanbruch« der Selenskyjj-Biografie. Es schildert, wie der ukrainische Präsident den ersten Tag der russischen Invasion verbrachte. »Die Scham, davor zu fliehen, war für Selenskyj beängstigender als die Vorstellung, in der Invasion zu sterben«, sagt dazu Autor Shuster im Gespräch mit dem SPIEGEL. Sie finden das Interview hier. |
Wolodymyr Selenskyj fühlte sich dem Anwesen, das er zu Beginn der Invasion verließ, nicht besonders verbunden. Fast anderthalb Jahre lang war es für ihn und seine Familie ein angenehmer Ort zum Leben gewesen, mit einem separaten Wohngebäude für ihre Leibwächter und einem großen Stück Land, um den Hunden Auslauf zu geben, bis sie müde waren. Doch das Haus selbst – mit einer neoklassizistischen Fassade aus gelbem Stein, gelegen auf dem Grundstück Nr. 29 in der geschlossenen Wohnanlage Kontscha-Saspa – erschien dem ehemaligen Comedian übermäßig prunkvoll, fast schon protzig. Mit einem Wort, es war zu präsidial für Selenskyj.
Als Mann, der sein ganzes Leben mit der Schauspielerei verbracht hatte und in der Lage war, die Rollen so schnell zu wechseln, wie seine Bühnenarbeiter die Kulissen für den nächsten Sketch umbauen konnten, war Selenskyj die große und königliche Rolle des Präsidenten zuwider. Sie passte nicht zu der Figur, die er jahrzehntelang auf der Leinwand und auf der Bühne kultiviert hatte: dem grinsenden Spaßvogel, dem unermüdlichen Charmeur, dem Schulterklopfer, der glaubte, dass am Ende alles gut würde auf der Welt. Mit einer Größe von nur knapp 1,70 Metern und funkelnden Augen, die unter seinen dunklen, ausdrucksstarken Augenbrauen ein wenig hervortraten, beruhte Selenskyjs Erfolg sowohl als Comedian als auch in der Politik auf seiner Fähigkeit, eine Rolle zu spielen, glaubwürdig und normal zu erscheinen wie einer von nebenan.
Millionen von Menschen in der Ukraine hatten miterlebt, wie diese Figur über die Jahre zum größten Satiriker seiner Generation herangereift war, der mit seinem Witz jedes Publikum gewinnen konnte, indem er Politiker an die Wand nagelte. Wenn es darum ging, dieses Image zu bewahren, tat er sich mit der Residenz in Kontscha-Saspa keinen Gefallen. Sie war für Politiker erbaut worden, nicht für Politcomedians, und der Präsident hatte Mühe, sie sein Zuhause zu nennen. »Für mich ist sie wie ein Hotel, sonst würde ich sie nicht nutzen«, sagte er entschuldigend, nachdem seine Familie im Sommer 2020 dort eingezogen war.
Die Presse verzieh ihm das nie. Bis zu dem Tag, an dem er als Kriegspräsident praktisch immun gegen Kritik wurde, erinnerten die Journalisten Selenskyj gern an die berühmtesten Sätze, die er in seiner Fernsehkarriere je von sich gegeben hatte. In der Schlüsselszene seiner erfolgreichsten Sitcom, die ihm auch den Weg zur Präsidentschaft ebnete, schimpft Selenskyjs Figur, ein Geschichtslehrer, über die Gier der politischen Eliten und insbesondere über deren prunkvolle Häuser:
»Diese Wichser kommen an die Macht, und alles, was sie tun, ist stehlen und Scheiße reden, Scheiße reden und stehlen. Lasst doch mal einen einfachen Lehrer wie einen Präsidenten leben, und lasst den beschissenen Präsidenten wie einen Lehrer leben.«
Diese Rede, die 2015 erstmals in der Ukraine ausgestrahlt wurde, war der Geburtsschrei von Selenskyjs politischer Karriere. Sie brachte ihn ins Amt und verfolgte ihn anschließend. Sie liefert auch eine Erklärung dafür, warum er im dritten Winter seiner Präsidentschaft, als russische Truppen die Ukraine im Norden, Osten und Süden einkesselten, kein beliebter Machthaber war. Er war ein frustriertes Staatsoberhaupt, das Frieden versprochen und dieses Versprechen nicht gehalten hatte. Er war der Witzbold, der glaubte, ein Land mit vierundvierzig Millionen Einwohnern so regieren zu können, wie er sein Filmstudio geführt hatte. Er war der Reformer, der versprochen hatte, die Politiker aus ihren Villen zu vertreiben und sie mit dem Fahrrad zur Arbeit fahren zu lassen. In jener schrecklichen Nacht, als die Bewohner von Kontscha-Saspa vom Lärm russischer Bomben geweckt wurden, saß Selenskyj jedoch selbst in einer Villa, getaucht in das sanfte Licht eines Kronleuchters.
Gegen 4:30 Uhr am Morgen des 24. Februar 2022 drang die Unruhe bis ins Schlafzimmer des Präsidenten, wo die First Lady Olena Selenska noch schlief. Es dauerte einige Augenblicke, bis sie die tiefen Detonationen wahrnahm, die durch die Fenster drangen. Zuerst klangen sie wie ein Feuerwerk. Dann schlug sie die Augen auf und stellte in der Dunkelheit fest, dass die Bettseite ihres Mannes leer war. Der Präsident stand im Nebenzimmer, machte sich bereit, zur Arbeit zu gehen, und trug bereits einen dunkelgrauen Anzug. Als sie ihn dort antraf, brachte ihr verwirrter Gesichtsausdruck Selenskyj dazu, ihr ein Wort auf Russisch zu sagen, der Sprache, die sie zu Hause am häufigsten sprachen. Natschalos, sagte er. »Es hat begonnen.«
Sie verstand, was er meinte. Schon seit Monaten warnten die Nachrichten in der Ukraine vor einem drohenden Krieg. In Talkshows wurde darüber diskutiert, welche Amtsträger und Gesetzgeber am wahrscheinlichsten fliehen würden. In einer Sendung wurden Ratschläge gegeben, was man in einen Notfallkoffer packen sollte, bevor man sich als Flüchtling auf den Weg machte. Einige der schlimmsten Vorhersagen stammten von den westlichen Verbündeten der Ukraine, insbesondere von den US-Geheimdiensten, die zu dem Schluss gekommen waren, dass Russland eine Invasion aus drei Richtungen plane und die Hauptstadt wahrscheinlich innerhalb weniger Tage überrennen werde. Das Ziel der Russen sei es, den größten Teil des Landes einzunehmen und die Regierung Selenskyj abzusetzen, hieß es.
Für viele Ukrainer hatten diese Vorhersagen absurd geklungen. Es wurde nicht erwartet, dass der Angriff, wenn er denn kommen sollte, über die Grenzregionen im Osten hinausgehen würde. Seit etwa acht Jahren liefern sich die Ukraine und Russland einen langwierigen Krieg um zwei Separatistengebiete in der Ostukraine. Nur wenige in Kyjiw glaubten, dass die jüngste Eskalation allzu weit über diese Regionen hinausgehen würde. Noch weniger glaubten, dass sie jemals ihre Heimat erreichen würde. Bis in die letzten Stunden glaubte auch Selenskyj nicht daran. Er wies seine Frau nicht an, sich vorzubereiten. Erst am Vorabend der Invasion machte sich die First Lady eine Notiz, dass sie einen Koffer packen oder zumindest die Pässe und andere Dokumente der Familie zusammensuchen sollte. Aber sie kam nicht dazu. Der Tag verging, wie so oft, viel zu schnell mit Routineaufgaben und Besorgungen. Sie erledigte ein paar Dinge und machte mit den Kindern Hausaufgaben. Dann aßen sie zu Abend und sahen fern.
Der Präsident kam erst lange nach Mitternacht heim und sagte nichts, woraus seine Frau hätte schließen können, dass sie in Gefahr waren. In jener Nacht gingen sie zu Bett, ohne Pläne für den Kriegsfall zu schmieden, und schliefen nur ein paar Stunden, ehe die Bombardierung begann. Nun konnte die First Lady aus seinen Augen ablesen, dass die Lage viel schlimmer war, als sie es sich vorgestellt hatte. »Emotional war er wie eine Gitarrensaite«, sagte sie später.
»Seine Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt.« Dennoch erinnerte sie sich an keinerlei Verwirrung oder Angst in seinem Gesichtsausdruck. »Er war vollkommen gefasst und konzentriert.« Offenbar so konzentriert, dass er nicht einmal seine Kinder weckte und sich von ihnen verabschiedete. Er bat nur seine Frau, ihnen zu erzählen, was passiert sei. Er versprach, sie später anzurufen und ihr Anweisungen für das weitere Vorgehen zu geben. »Wir waren noch dabei, die Geschehnisse zu verarbeiten«, sagte sie. »Wir hätten nie gedacht, dass so etwas passieren könnte, denn das ganze Gerede über den Krieg war nur Geschwätz gewesen.« Der Lärm der Explosionen draußen hatte sie in eine neue Realität katapultiert.
Draußen sprang der Präsident die wenigen Stufen zur Einfahrt hinab und stieg in ein Fahrzeug seiner bereits wartenden Wagenkolonne. Das Metalltor öffnete sich, und sein Fahrer bog auf die von Bäumen gesäumte Straße durch Kontscha-Saspa in Richtung Norden ein. Einstweilen passierte Selenskyj die gewohnte Szenerie seiner Fahrt zur Arbeit auf der E40, den Fußballplatz zu seiner Rechten, eine Kapelle mit goldenen Kuppeln zu seiner Linken, die Werbetafeln, die an jeder Ausfahrt Eigentumswohnungen anpriesen. Es war das letzte Mal für viele Monate, dass er das alles in einem friedlichen Zustand sah, mit intakten Brücken, ohne militärische Kontrollpunkte, ohne Panzersperren und verbogenes Metall auf den Straßen. In ein oder zwei Tagen würde Kyjiw erneut einer Festung ähneln und in jenen Belagerungszustand zurückkehren, der einen Großteil seiner Geschichte bestimmt hatte. Anderthalb Jahrtausende lang hatten die europäischen Reiche um diese alte Stadt am Ufer des Dnepr gekämpft. Die Wikinger, die Osmanen, die Mongolen, die Litauer und die Polen hatten Anspruch auf Kyjiw erhoben, seine Handels- und Wissenszentren, seine Klöster und Kathedralen. Die Russen hatten die Stadt im 12. Jahrhundert zum ersten Mal geplündert. Nun versuchten sie es wieder.
Auf dem Rücksitz des Wagens saß Selenskyj schweigend da, den Blick auf sein Telefon gerichtet. Während die Wagenkolonne durch die Dunkelheit raste, strömte eine Flut von Anrufen und Nachrichten herein. Einer der ersten Anrufer war sein Freund Denys Monastyrskyj, der für Landespolizei und Grenzschutz zuständige Innenminister. Er war ein paar Jahre jünger als Selenskyj, sah aber älter und härter aus und wirkte ein wenig wie ein Preisboxer. In den letzten drei Tagen hatte Monastyrskyj in seinem Büro im Innenministerium geschlafen und auf Anzeichen des russischen Angriffs gewartet, und nun war es seine Aufgabe, den Präsidenten zu informieren, dass der Angriff begonnen hatte. Selenskyj fragte ihn, wo genau. Er wollte wissen, welche Angriffsrichtung der Kreml gewählt hatte.
»Alle«, sagte Monastyrskyj. Entlang der gesamten Ost- und Nordgrenze beschossen die feindlichen Streitkräfte die ukrainischen Stellungen mit Artillerie, Mehrfachraketenwerfern und Fliegerbomben. Russische Kampfjets flogen über die großen Städte, um die ukrainische Luftabwehr auszuschalten und den Luftraum zu erobern. In der Leitung herrschte Stille. Der Präsident brauchte einen Augenblick, um die Informationen zu verarbeiten. Dann sagte er einen Satz, an den sich Monastyrskyj noch lange erinnern würde: »Schlagt sie zurück.«
Solche Zuversicht, selbst im Angesicht größter Gefahren, war schon immer eine von Selenskyjs Stärken gewesen. In diesem Moment schien sie jedoch fehl am Platze und grenzte an Größenwahn. Er wusste, dass der Ukraine die Mittel fehlten, um die Russen zurückzuschlagen. Bestenfalls könnte man sie einige Tage lang aufhalten, hoffentlich lange genug, damit die militärische und politische Führung sich orientieren, Ressourcen mobilisieren und die Teile des Landes retten könnte, die nicht in der ersten Angriffswelle überrannt würden. Durch sein Verhalten vor der Invasion trug Selenskyj zumindest eine Teilschuld am dürftigen Zustand der Landesverteidigung. Wochenlang hatte er das Risiko einer groß angelegten Invasion heruntergespielt und seinem Volk versichert, dass alles gut gehen würde. Er hatte den Rat seiner militärischen Befehlshaber ausgeschlagen, sämtliche verfügbaren Reserven aufzubieten und sie zur Verstärkung der Grenze einzusetzen. Neben der Katastrophe der Invasion selbst musste sich der Präsident somit auch mit seinem eigenen Versagen auseinandersetzen, diese nicht vorhergesehen zu haben. Doch dafür war später Zeit.
Der Wagen steuerte sein Büro in der Bankova-Straße an, obwohl dies nicht der sicherste Ort für ihn war. Das Präsidialamt befindet sich mitten in einem dicht bebauten Viertel, umgeben von Wohnhäusern, belebten Cafés und mit Boutiquen gesäumten Kopfsteinpflastergassen. Die nächsten Wohnungen lagen nahe genug an Selenskyjs Büro, dass jemand eine Granate durchs Fenster werfen konnte. Als er gegen 5:00 Uhr morgens eintraf, herrschte auf den Straßen ein für diese Uhrzeit ungewöhnliches Treiben. Die Menschen bereiteten sich auf ihre Flucht vor, brachten ihre Koffer und Haustiere nach draußen und schnallten ihre Kinder in den Autositzen fest. Selenskyjs Leibwächter wussten nicht, ob russische Saboteure eines der am Straßenrand geparkten Autos mit Sprengstoff beladen hatten. Seine Residenz in Kontscha-Saspa verfügte wenigstens über einen Sicherheitszaun und ein Metalltor. Auf dem Gelände des Präsidialamts im Zentrum Kyjiws gab es solche Sicherheitsvorkehrungen nicht, aber Selenskyj bestand darauf, zuerst dorthin zu gehen. Es war der Sitz der präsidialen Macht, und seine Botschaft an die ranghohen Berater und Minister, die ihn an diesem Morgen anriefen oder ihm eine Textnachricht schickten, war dieselbe: Gehen Sie ins Büro. Ich erwarte Sie dort.
Oleksij Danilow, der Sekretär des Nationalen Verteidigungs- und Sicherheitsrates, benötigte vom Präsidenten keine Anweisung, wohin er gehen sollte. Er war einer der wenigen Amtsträger in Selenskyjs Umfeld, die den Warnungen vor einer drohenden Invasion Glauben geschenkt hatten. Die Aussicht darauf schien Danilow bisweilen mindestens ebenso sehr zu erregen wie zu ängstigen. Er glaubte fest daran, dass die Ukrainer sich heftig zur Wehr setzen würden, und er wollte an vorderster Front dabei sein.
Am Morgen des Überfalls war er bereits angekleidet, als die erste russische Rakete auf einem Luftwaffenstützpunkt in der Nähe seines Hauses am Stadtrand von Kyjiw einschlug, so nah, dass seine Fensterscheiben zitterten. Der Einschlag habe ihm ein unerwartetes Gefühl der Erleichterung verschafft, wie er sich später erinnerte. Seine Frau und sein Sohn hatten die Stadt bereits im Vorfeld des Angriffs verlassen, und Danilow fand es quälend, allein mit der Erwartung zu leben, dass eine Offensive jederzeit beginnen könnte. Jetzt hatte das Warten ein Ende, und er wusste, was zu tun war, welche Verteidigungsmechanismen er in Gang setzen musste.
Als Danilow in die Bankova-Straße einbog, notierte er sich die Uhrzeit – 5:11 Uhr – und stapfte die Treppe zu Selenskyjs Büro hinauf. Es überraschte ihn, dass der Präsident ein frisches weißes Hemd trug. Die Wahl schien unpassend und irgendwie untypisch. Selenskyj war dafür bekannt, dass er in seinem grün-schwarzen Glückspullover zur Arbeit kam, der eher an eine Star Trek-Convention erinnerte. Doch ausgerechnet an jenem Tag hatte er beschlossen, es nicht leger zu halten. Er war gekleidet, als würde er gleich auf die Bühne gehen. Die andere Überraschung war Selenskyjs Auftreten. Er war ruhig, seine Stimme fest, die Augenlider waren entspannt. Die erste Äußerung zum Krieg, die er gegenüber Danilow machte, war dieselbe, die er eine Stunde zuvor gegenüber seiner Frau getätigt hatte: »Es hat begonnen.« Dann stellte er eine profane Frage, die aus dem Russischen schwer zu übersetzen ist. Grob gesagt bedeutet sie: »Wollen wir ihnen in den Arsch treten?«
Vorerst waren es jedoch hauptsächlich die Russen, die anderen in den Arsch traten. In der Anfangsphase der Invasion rückten rund siebzigtausend Soldaten und siebentausend gepanzerte Fahrzeuge von Norden her auf Kyjiw zu, und zwar auf beiden Seiten des Flusses Dnepr, der durch die Stadt fließt. Es handelte sich offenbar um einen Blitzkrieg, der den Angriffen ähnelte, die der Kreml im Laufe der Jahre mit verheerender Wirkung durchgeführt hatte. Bei der Operation »Wirbelwind« brauchten die sowjetischen Streitkräfte 1956 keine vier Tage, um die ungarische Hauptstadt zu besetzen und die Regierung zu stürzen, deren Ministerpräsident anschließend verhaftet, gefoltert, in einem Geheimprozess des Hochverrats für schuldig befunden und zwei Jahre später am Galgen hingerichtet wurde. Im Jahr 1968 überrannten sowjetische Truppen innerhalb von zwei Tagen die Tschechoslowakei und nahmen Prag ein, und am Abend des 27. Dezember 1979 benötigten sowjetische Spezialeinheiten nur wenige Stunden, um einen stark befestigten Palast in Kabul zu stürmen und den afghanischen Staatschef zu liquidieren.
Schon Tage vor Beginn der Invasion hatte der ukrainische Geheimdienst drei Gruppen von Attentätern aufgespürt, die den Auftrag hatten, Selenskyj zu töten.
Der militärhistorisch interessierte Danilow hatte derartige Präzedenzfälle im Sinn, als er versuchte, sich den Plan des Kreml zur Eroberung der Ukraine vorzustellen. Er glaubte nicht, dass die Russen das gesamte Land einnehmen und halten könnten. Es war zu groß, sein Gebiet fast doppelt so groß wie Deutschland, und der Widerstandswille der Bevölkerung würde eine rasche Besetzung nicht ermöglichen. Was Danilow beunruhigte, war das Szenario von Kabul, ein Blitzangriff auf das Präsidialamt, um das Staatsoberhaupt gefangen zu nehmen oder zu töten. Schon Tage vor Beginn der Invasion hatte der ukrainische Geheimdienst drei Gruppen von Attentätern aufgespürt, die den Auftrag hatten, Selenskyj zu töten. Alle stammten aus der südrussischen Region Tschetschenien, der Heimat einiger der skrupellosesten und loyalsten Kommandotruppen Putins. »Wir hatten sie schon eine Weile beobachtet«, erzählte mir Danilow später. »Es gab konkrete Informationen, dass sie unseren Präsidenten liquidieren sollten.« Der tägliche Geheimdienstbericht, den Danilow am 22. Februar erhielt, also zwei Tage vor der Invasion, umfasste detaillierte Warnungen vor dem Komplott. Am Abend brachte Danilow das streng geheime Dokument in Selenskyjs Büro, um ihn über die Gefahr zu informieren. Doch der Präsident tat das Ganze ab. Er weigerte sich zu glauben, dass im 21. Jahrhundert, drei Jahrzehnte nach dem Ende des Kalten Krieges, Auftragskiller versuchten, einen amtierenden europäischen Staatschef zu ermorden. Er konnte sich auch nicht vorstellen, dass Putin einen großen Krieg beginnen würde, eine Landinvasion von einem Ausmaß, das Europa seit Generationen nicht mehr erlebt hatte.
»Damals dachten wir, das wären nur Drohungen«, sagte Selenskyj später gegenüber der BBC. »Wir haben mit den Geheimdiensten gesprochen, mit unseren eigenen und denen unserer Partner. Jeder sah die Risiken anders.« Einige seiner europäischen Verbündeten, darunter die Staats- und Regierungschefs von Frankreich und Deutschland, versicherten ihm, dass die amerikanischen Vorhersagen über eine Invasion übertrieben seien. »Sie riefen mich zurück und sagten mir: ›Wir haben mit Putin gesprochen. Putin wird nicht einmarschieren.‹«
Sie täuschten sich. Um genau 5:00 Uhr Kyjiwer Zeit veröffentlichte der Kreml auf seiner Website ein Video, um den Beginn der Invasion zu verkünden. Die Aufnahmen zeigten Wladimir Putin in einem holzgetäfelten Büro, mit roten Augen und trockenem Mund; er hielt sich mit beiden Händen an der Kante seines Schreibtisches fest, als müsse er sich stützen. Die Liste der Feinde und Missstände, die er zur Rechtfertigung des Krieges aufzählte, reichte Jahrzehnte zurück, und den Namen Selenskyj erwähnte er in dieser Rede nie. Auch nannte Putin die Ukraine nicht als letztgültiges Angriffsziel. In den ersten zwanzig Minuten seiner Kriegserklärung konzentrierte er sich stattdessen auf die Vereinigten Staaten, die Kriege, die sie in Jugoslawien, Libyen und im Irak geführt hatten, und auf die »unmittelbare Bedrohung«, die sie, wie er sagte, für Russland darstellten. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion hätten die USA immer mehr europäische Staaten in die NATO aufgenommen, erklärte Putin, und diese »Kriegsmaschinerie« immer näher an die Grenzen Russlands heran ausgedehnt. NATO-Militärstützpunkte befänden sich nun in den Teilen Europas, die Russland als rechtmäßigen Einflussbereich betrachte, und er werde nicht zulassen, dass die Ukraine diesem Weg folge und ihr Ziel, dem Bündnis beizutreten, erreiche. In dem »historisch gesehen russischen Land«, sagte er und meinte damit die Ukraine, hätten die USA und ihre Verbündeten ein feindliches »Anti-Russland« geschaffen. Früher oder später würden sie die Ukraine nutzen, um einen Krieg gegen Russland selbst zu beginnen, und es wäre »unverantwortlich«, wenn das russische Militär nicht zuerst zuschlagen und die Bedrohung neutralisieren würde.
Wenn Selenskyjs Weg zur Macht im Jahr 2019 auf seinem Ruhm als Comedian gründete, so gründete Putins Aufstieg auf seinem Sieg in einem Krieg gegen Tschetschenien, dessen Städte er niederbombte und dabei Zehntausende Zivilisten tötete.
Wie viele von Putins Tiraden gegen den Westen in den vergangenen Jahren triefte auch diese Ansprache vor Unwahrheiten und Paranoia. In Wirklichkeit hatten sich die USA und ihre europäischen Verbündeten lange Zeit geweigert, der Ukraine einen klaren Weg zum Bündnisbeitritt aufzuzeigen. Die Staats- und Regierungschefs der NATO hatten die Beitrittsgesuche der Ukraine anderthalb Jahrzehnte lang hinausgezögert, und ihre Sorge, Putin zu verärgern, hielt sie davon ab, die Ukraine mit den Waffen auszustatten, die sie zur Selbstverteidigung benötigte. Manche dieser Sorgen waren zweifellos berechtigt. Wenn Selenskyjs Weg zur Macht im Jahr 2019 auf seinem Ruhm als Comedian gründete, so gründete Putins Aufstieg zwei Jahrzehnte zuvor auf seinem Sieg in einem Krieg gegen Tschetschenien, einem abtrünnigen Kleinstaat im Süden Russlands, dessen Städte er 1999 und 2000 niederbombte und dabei Zehntausende Zivilisten tötete. Die brutale Unterwerfung der tschetschenischen Bevölkerung und die Ermordung ihrer Anführer setzten weitgehend den Ton für Putins Regentschaft und waren der Vorbote seines Versuchs, das Gleiche in der Ukraine zu tun. Während westliche Regierungschefs die Hände rangen und über die Risiken einer Eskalation nachgrübelten, entschloss sich Putin zum Angriff auf Kyjiw, und seine Rede ließ der Welt keinen Zweifel an seinen Absichten. Die Führung in der Ukraine, sagte er, sei ein Haufen völkermordender Neonazis, und er wolle ihre Regierung stürzen, ihr Land »entmilitarisieren und entnazifizieren« und an Selenskyjs Stelle einen loyalen Führer einsetzen.
In jenen ersten Stunden der Invasion konnte niemand sagen, ob Selenskyj und sein Team durchhalten würden. Das Militär und die Nachrichtendienste hatten Monate damit verbracht, Szenarien für die Invasion zu entwerfen, aber ihre Prognosen konnten diese Frage nie klären. Würde der Präsident in Panik geraten? Würde die Angst vor dem eigenen Tod seine Führungsqualitäten beeinträchtigen? »Das ist der einzige Faktor, den man nie berechnen kann«, sagte Danilow später zu mir. »Solange man sich nicht in dieser Situation befindet, kann man nicht sagen, wie man reagieren wird.«
Die Geschichte gab eher den Pessimisten recht. Nur sechs Monate vor dem Einmarsch in die Ukraine verließ der afghanische Präsident Aschraf Ghani – ein wesentlich erfahrenerer Staatsführer als Selenskyj – seine Hauptstadt, als sich Taliban-Kämpfer näherten. Einer von Selenskyjs Vorgängern, Viktor Janukowitsch, floh aus Kyjiw, als während der Revolution von 2014 Demonstranten sein Büro belagerten. Zu Beginn des Zweiten Weltkrieges flohen unter anderem die Führer von Albanien, Belgien, der Tschechoslowakei, Griechenland, Polen, den Niederlanden, Norwegen und Jugoslawien vor dem Vormarsch der deutschen Wehrmacht und verbrachten den Rest des Krieges im Exil. Selbst Iwan der Schreckliche, der erste russische Herrscher, der sich Zar nannte, floh aus Moskau, als die Osmanen und ihre regionalen Verbündeten 1571 die Stadt angriffen.
Manche Regierungsvertreter hatten sofort nach Beginn der Bombardierung ihre Telefone ausgeschaltet, ihre Autos gepackt und sich auf den Weg zur westlichen Grenze gemacht.
Wenig oder gar nichts in Selenskyjs Biografie deutete darauf hin, dass er sich anders verhalten würde. Er hatte nie in der Armee gedient oder besonderes Interesse an deren Aufgaben gezeigt. Sein beruflicher Instinkt gründete sich auf ein Leben als Bühnenschauspieler, als Meister der Improvisationskomik und als Produzent für Film und Fernsehen. Seine Erfahrung als Staatsmann betrug etwa zwei Jahre und neun Monate, weniger als die Zeit, die man braucht, um einen Bachelor-Abschluss in internationalen Angelegenheiten zu erwerben. Für fast jeden in seiner Position wäre ein Fluchtimpuls so natürlich wie der Überlebenswille gewesen. Ein paar russische Bomben, wie sie an jenem Morgen auf die ukrainischen Militärstützpunkte niedergingen, hätten ausgereicht, um einen Großteil des Regierungsviertels zu verwüsten und dabei auch das Parlament und das Ministerkabinett zu zerstören, die beide in unmittelbarer Nähe des Präsidialamts stehen. Dieser Teil der Stadt, auch »das Dreieck« genannt, war noch nie leicht zu verteidigen gewesen. Den Demonstranten, die Janukowitsch 2014 aus dem Amt jagten, gelang es, Teile davon mit kaum mehr als Schilden und Stöcken einzunehmen. Nun mussten die Behörden damit rechnen, dass russische Panzer durch die Stadt rollten. Als Danilow begann, bei Regierungsvertretern anzurufen, war er nicht überrascht zu erfahren, dass manche sofort nach Beginn der Bombardierung ihre Telefone ausgeschaltet, ihre Autos gepackt und sich auf den Weg zur westlichen Grenze gemacht hatten. »Viele von ihnen gerieten in Panik«, sagte er.
Es kam zu Überläufen, von denen der wichtigste ukrainische Geheimdienst, der SBU, besonders betroffen war. »Vor allem in den oberen und mittleren Rängen gab es eine Menge Probleme«, sagte mir ein anderer von Selenskyjs Top-Sicherheitsberatern. »Viele Leute aus den Sicherheitsstrukturen sagten: ›Lasst uns hier verschwinden. Widerstand ist zwecklos. Die Russen werden uns besiegen.‹« Ihr Exodus dezimierte die oberen und mittleren Ränge der Organisation. Dutzende von Offizieren wechselten auf die Seite der Invasoren und übergaben damit die Schlüssel zu Teilen der Südukraine. Die Führung in Kyjiw blieb jedoch weitgehend standhaft.
Selenskyj hält eine Dringlichkeitssitzung am 24. Februar 2022
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Gegen 6:00 Uhr morgens trat der Sicherheitsrat in Selenskyjs Büro im vierten Stock des Präsidialamts zusammen. Der Präsident saß am Kopfende des Konferenztisches mit Blick zur Tür. Ein kurzer Bericht der militärischen Befehlshaber vermittelte ein Gefühl für das Ausmaß der Invasion. Hauptziel war offenbar Kyjiw, wo Raketen einen militärischen Kommandoposten, ein Munitionsdepot, eine Garnison der Nationalgarde und andere Ziele getroffen hatten. Von allen möglichen Szenarien für die Invasion hatte Russland das aggressivste gewählt, und Selenskyj sah sich gezwungen, landesweit das Kriegsrecht zu verhängen. Der Sicherheitsrat stimmte rasch zu. Niemand erhob irgendwelche Einwände. Unter den gegebenen Umständen schien dies eine Formalität zu sein, doch die Konsequenzen waren enorm, wie sich in den folgenden Monaten zeigte. Das in der ukrainischen Verfassung verankerte Kriegsrecht räumt dem Präsidenten weitreichende Befugnisse ein, per Dekret zu regieren, etwa Wahlen und andere demokratische Rechte und Freiheiten der Ukrainer für die Dauer des Krieges auszusetzen. Beispielsweise können Ausgangssperren verhängt werden. Jeder Mann im kampffähigen Alter zwischen achtzehn und sechzig Jahren unterliegt der Wehrpflicht und darf das Land nicht verlassen. Die normalen Funktionen des Parlaments sind außer Kraft gesetzt, und die Vermögenswerte staatlicher Unternehmen sowie sämtliches Privateigentum können im Interesse der Landesverteidigung beschlagnahmt werden.
Panik machte sich breit, und Selenskyj war klar, dass sie die Hauptstadt viel schneller überrollen könnte als die russischen Panzer.
Rund um das Regierungsviertel hatten Soldaten und Freiwillige begonnen, Barrikaden zu errichten, und manche Straßen mit Kipplastern und Linienbussen blockiert. In der ganzen Stadt bildeten sich lange Schlangen vor Banken und Tankstellen, und am Hauptbahnhof wimmelte es von Menschen, die zu fliehen versuchten. Alle Flüge in die und aus der Ukraine waren annulliert. Passagiere und Mitarbeiter der Fluggesellschaften wurden aufgefordert, den Hauptflughafen von Kyjiw zu verlassen. Panik machte sich breit, und Selenskyj war klar, dass sie die Hauptstadt viel schneller überrollen könnte als die russischen Panzer. Er musste den Menschen versichern, dass es ungefährlich war, zu Hause zu bleiben. Gegen 6:30 Uhr unternahm er einen ersten Versuch.
Er saß an seinem Schreibtisch, legte sein Telefon vor sich hin und drückte auf Aufnahme. Die sechsundsechzig Sekunden lange Nachricht zeigte noch wenig von der Zuversicht, die Selenskyj in seinen späteren Kriegsvideos ausstrahlte. Er las zu schnell von einer Reihe vorbereiteter Notizen ab und informierte die Nation darüber, dass Putins Streitkräfte einmarschiert seien, dass im ganzen Land Explosionen zu hören gewesen seien und dass die ausländischen Verbündeten der Ukraine bereits eine internationale Reaktion vorbereiteten. Dann sprach er etwas langsamer, und ein schwaches Lächeln huschte über sein Gesicht. »Was heute von Ihnen verlangt wird, ist Ruhe, von jedem Einzelnen von Ihnen«, sagte er in die Kamera. »Ich werde mich bald wieder melden. Geraten Sie nicht in Panik. Wir sind stark. Wir sind zu allem bereit.«
Der vorbereitete Teil seiner Rede entsprach der Wahrheit, der Rest nicht. Selenskyj suggerierte in seinem Video zwar, dass die Menschen sich zu Hause sicher fühlen könnten, aber er wusste es besser. Einige seiner Mitarbeiter hatten ihre Familien bereits aus der Stadt geschickt und sich von ihnen verabschiedet, als wäre es das letzte Mal.
Nach der Verhängung des Kriegsrechts verließen die meisten Mitglieder des Sicherheitsrates, einschließlich der Leiter des Militärs und der Nachrichtendienste, das Präsidialamt und begaben sich in ihre jeweiligen Hauptquartiere, um dort das Kommando zu übernehmen. Sie hatten den klaren Auftrag, das Schlachtfeld zu beobachten, Informationen zu sammeln und die Truppen zu lenken. Die Rolle des Präsidenten war weniger klar definiert. Obwohl er Oberbefehlshaber der Streitkräfte war, hatte er weder die Erfahrung noch die Absicht, sie zu führen. Er vertraute hier vielmehr auf seine Generäle und konzentrierte sich stattdessen auf die Diplomatie, auf die Notwendigkeit, die Führer der Welt zu mobilisieren. Die erste Nummer, die er an diesem Morgen in seinem Büro wählte, war die des britischen Premierministers Boris Johnson. Zu diesem Zeitpunkt – etwa gegen 4:40 Uhr – war es in London noch dunkel, aber Johnson nahm ab und begrüßte Selenskyj freundschaftlich. Die beiden hatten sich in den Monaten vor dem Krieg näher kennengelernt; Johnson bemühte sich mehr als die meisten seiner Kollegen, die Ukrainer zu beruhigen und ihnen Unterstützung zuzusichern. In den Wochen vor der Invasion hatte seine Regierung außerdem eine der größten Waffenlieferungen geschickt, darunter Panzerabwehrraketen. »Wir werden kämpfen, Boris! Wir werden nicht aufgeben«, rief Selenskyj in den Telefonhörer. Ein paar Schritte entfernt stand Danilow, der die Szene so bewegend fand, dass er sie mit seinem Handy aufzeichnete.
Als die Morgendämmerung über Westeuropa anbrach, meldeten sich weitere ausländische Staats- und Regierungschefs aus Washington, Paris, Berlin, Ankara, Wien, Stockholm, Warschau, Brüssel und anderswo bei Selenskyj. Ihre Anrufe ließen alle zehn oder zwanzig Minuten das gesicherte Telefon auf seinem Schreibtisch aufleuchten. Keiner von ihnen klang so ermutigend wie Johnson, und manche formulierten verschleierte Ultimaten, um Selenskyj die Gefahr vor Augen zu führen, der er ausgesetzt war. »An jenem ersten Tag gab es Drohungen gegenüber dem Präsidenten«, sagte der außenpolitische Berater Sibiga, der die Gesprächsthemen für diese Anrufe vorbereitete und sich über den Schreibtisch des Präsidenten beugte, um mitzuhören. »Die Kernaussage war: Akzeptieren Sie Russlands Forderungen, oder Sie und Ihre Familie sind tot.« Mehrere der ausländischen Staatsoberhäupter boten der Ukraine an, als Vermittler zu fungieren, um die Bedingungen für die Kapitulation auszuhandeln. »Es gab Angebote in diesem Sinne: Nehmt die Bedingungen an. Bedenkt, mit wem ihr es da zu tun habt!«
Mit schätzungsweise neunhunderttausend Soldaten im aktiven Dienst war das russische Militär mindestens viermal so stark wie das der Ukraine. Die Russen verfügten über fünfmal so viele gepanzerte Kampffahrzeuge und zehnmal so viele Flugzeuge. Der ukrainische Verteidigungshaushalt betrug mit rund 4,5 Milliarden Dollar etwa ein Zehntel dessen, was Russland jährlich für sein Militär ausgab.
Selenskyjs Verbündete wussten um das Kräfteverhältnis – und was es bedeutete. Deshalb fragten sie ihn zu Beginn fast jedes Telefonats, ob er Kyjiw zu seiner eigenen Sicherheit verlassen wolle und wie sie ihm helfen könnten. Die Präsidentengarde hatte eine Liste mit sicheren Orten, wohin er gehen konnte. In den Randgebieten der Hauptstadt standen Bunker bereit. Weiter westlich, nahe der Grenze zu Polen, boten verschiedene Regierungseinrichtungen dem Präsidenten die Möglichkeit, ohne die unmittelbare Gefahr eines Attentats oder einer Einkreisung durch russische Truppen zu regieren. Mehrere europäische Staatsoberhäupter sagten zu, ihm mit seiner Familie und seinen Mitarbeitern bei der Flucht zu helfen. Eine der sichersten Optionen war, die Verteidigung der Ukraine von einer Einrichtung in Ostpolen aus zu leiten, die unter dem nuklearen Schutzschirm des NATO-Bündnisses stand. US-Regierungsvertreter, darunter auch Präsident Joe Biden, waren bereit, der Ukraine bei der Einsetzung einer provisorischen Exilregierung zu helfen.
Selenskyj schätzte solche Angebote, empfand sie aber auch als ein wenig beleidigend, als hätten ihn seine Verbündeten bereits abgeschrieben. »Ich hatte es satt«, sagte er später über die Fluchtangebote, die, wie er sagte, »von allen Seiten kamen«. Er versuchte, jedes Gespräch darauf zu lenken, was die Ukraine zu ihrer Verteidigung benötigte – nämlich umfangreiche Waffenlieferungen und die Schließung des Luftraums –, und wurde ärgerlich, wenn er daraufhin weitere Angebote erhielt, ihm bei der Flucht zu helfen.
»Entschuldigung«, sagte er, »aber das gehört sich einfach nicht.« Die Frustration zeigte sich an jenem Morgen in einem Gespräch mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, der das Telefon auf Lautsprecher stellte, damit seine Berater Selenskyjs Schilderung des Invasionsbeginns mithören konnten. »Das ist der totale Krieg«, sagte Macron. »Ja«, kam die Antwort. »Totaler Krieg.« Selenskyj holte tief Luft. Wenn die Russen beabsichtigten, Kyjiw innerhalb weniger Tage einzunehmen, konnte er nicht darauf vertrauen, dass der Westen schnell genug Waffen liefern würde, um seine Überlebenschancen zu verbessern. Ihm war auch klar, dass die USA und Europa keinen Atomkrieg mit Russland riskieren würden, indem sie ihre eigenen Truppen zur Rettung der Ukraine entsandten. Westliche Staats- und Regierungschefs, darunter auch Präsident Joe Biden, hatten dies den Ukrainern gegenüber unmissverständlich klargemacht. Selenskyjs einzige Hoffnung, so naiv oder wahnhaft sie auch sein mochte, war, dass der Westen den Kreml davon überzeugen könnte, den Angriff abzubrechen und seine Truppen zurückzuziehen. »Es ist sehr wichtig, Emmanuel, dass Sie mit Putin sprechen«, sagte er zu Macron. »Wir sind sicher, dass die europäischen Staats- und Regierungschefs und Präsident Biden einen Draht zu ihm finden können. Wenn sie ihn anrufen und sagen, dass er aufhören soll, wird er aufhören. Er wird zuhören.«
In seinem Haus in Kontscha-Saspa wartete die Familie des Präsidenten auf dessen Anruf. Seine Kinder waren schon wach, als Olena sie wecken ging. Sie war unsicher, wie sie einem Neunjährigen und einer Siebzehnjährigen die Nachricht von der Invasion überbringen sollte, und Selenskyj hatte ihr diesbezüglich auch keinerlei Ratschläge gegeben. »Er sagte nicht, dass ich den Kindern gegenüber ehrlich oder unehrlich sein solle«, berichtete sie von ihrem letzten Gespräch zu Hause. »Er sagte nur, dass ich ihnen alles erklären solle.« Keines der Kinder stellte viele Fragen.
Kyrylo, ein verspielter, sensibler Junge, der sich leicht ablenken ließ, gehorchte seiner Mutter mit ruhiger Entschlossenheit und stopfte ein paar seiner Sachen in einen kleinen Rucksack: einige Stifte, ein Rätselheft, Teile eines halbfertigen Lego-Sets. Oleksandra, die von der Familie Sascha genannt wird, blieb über die sozialen Medien mit ihren Freunden in Kontakt und versuchte so, sich ein besseres Bild von den Geschehnissen draußen zu machen. Anhand der Nachrichten und Fernsehübertragungen war das Ausmaß der Gefahr nur schwer zu erfassen. Die Schlagzeilen konzentrierten sich auf die unmittelbaren Fakten – den Einschlag einer Rakete, die Sichtung eines Panzers – und überließen es den Menschen, die größeren Fragen zu erraten, wie zum Beispiel die Aussichten ihres Landes durchzuhalten.
Durch die Fenster ihres Hauses konnte Selenskyjs Familie das Dröhnen der Flugabwehrbatterien hören, die versuchten, russische Raketen, Flugzeuge und Hubschrauber abzuschießen. Einmal, als die First Lady am Fenster stand, donnerte ein Kampfjet durch den Himmel und flog dabei so tief, dass sie den Lärm in ihrem Brustkorb spürte. Ihr Leibwächter riet ihr, die Kinder in den Keller zu bringen. Es bestand die Gefahr, dass die Russen sie aus der Luft bombardierten. Ihr kleinerer Hund, ein Zwergschnauzer, hatte panische Angst vor Feuerwerkskörpern und Donnern und befand sich durch den Lärm der Explosionen in einem Schockzustand. Olena nahm ihn auf den Arm und trug ihn die Treppe hinunter. An jenem Morgen wiederholten sie diese Schritte mehrfach: Sie warteten im Keller, bis die Sicherheitsleute sagten, dass es sicher sei, nach oben zu gehen, und setzten dann einen Teekessel auf, der gerade in dem Moment zum Kochen kam, als der nächste Fliegeralarm sie wieder in den Keller zwang. Trotzdem wollte Olena nicht aus Kontscha-Saspa fliehen. Als der Präsident schließlich anrief, sagte sie ihm, dass sie sich zu Hause sicherer fühle als an einem unbekannten Ort und dass sie ihre Haustiere nicht zurücklassen wolle. »Wir versuchten zu widersprechen, aber er sagte uns, es sei sinnlos.« Die Adresse ihres Hauses war längst in der Presse veröffentlicht worden, und sie mussten davon ausgehen, dass die Russen Kontscha-Saspa auf ihren Karten eingekreist hatten.
Ohne zu wissen, wohin sie gehen oder wie lange sie wegbleiben würden, holte Olena die Familiendokumente und packte einen Rollkoffer für sich und die Kinder. Die Haustiere wurden in der Obhut des Hausmädchens und der Sicherheitsleute zurückgelassen, von denen einige auf dem Anwesen blieben. Als sie losfuhren, herrschte in der Stadt und in den Vororten helle Panik. Der Verkehr hatte sich von den Autobahnen auf die Landstraßen verlagert. An den Tankstellen hatten sich riesige Schlangen gebildet, und in der Nähe des Stadtzentrums wurden in Erwartung der russischen Panzer die ersten Barrikaden errichtet. In der Bankova-Straße wurden sie von den Wachen hinauf in die Regierungsetage geführt, wo es zwar angespannt, aber nicht chaotisch zuging. Niemand schrie oder zeigte große Emotionen. Das lauteste Geräusch kam vom Metalldetektor im Flur zum vierten Stock, der jedes Mal piepste, wenn ein Soldat mit einem Sturmgewehr hindurcheilte. Ansonsten herrschte ein gedämpfter Ton. Die Mitarbeiter kauerten in der Nähe zweier Farnpflanzen am Fenster oder starrten konzentriert auf die Bildschirme ihrer Laptops oder Telefone, schrieben Reden, schickten Mitteilungen, verfolgten die Nachrichten. »Es ist schwer, darauf vorbereitet zu sein«, sagte Andrij Jermak, der Stabschef des Präsidenten, der ihm seit dem frühen Morgen zur Seite stand. »Wir hatten so etwas bisher nur in Filmen gesehen oder in Büchern darüber gelesen.«
Wie viele Berater des Präsidenten stammte auch Jermak aus der Unterhaltungsindustrie. Sein Gesicht war rund und unrasiert. An den Handgelenken trug er volkstümliche Armbänder aus Leder und Holzperlen. Als Filmproduzent zeichnete er für einige Gangsterfilme verantwortlich, die sehr blutig und mit Macho-Dialogen gespickt waren. Bevor sein Freund Präsident wurde, war Jermak als Anwalt für Selenskyjs Produktionsfirma tätig. Jetzt war er mit der Leitung eines Krieges betraut und musste Anrufe von Generälen an der Front und aus dem Weißen Haus entgegennehmen. Irgendwann an diesem Morgen sah Jermak auf sein klingelndes Handy und erkannte einen ihm bekannten Namen auf dem Display. Es war Dmitri Kosak, ein hoher Kremlbeamter, den er von früheren Friedensgesprächen her gut kannte. Wochenlang hatten sie einen geheimen Dialog geführt und vergeblich versucht, eine Regelung zu finden, die Putin zum Abblasen des Angriffs hätte bewegen können. Die Gespräche scheiterten. Diesmal rief Kosak mit einer anderen Botschaft an. Die Ukraine solle sich zu Russlands Bedingungen ergeben. Jermak ließ ihn aussprechen, sagte ihm dann, er solle sich zum Teufel scheren, und legte den Hörer auf.
Falls er in dem Moment Angst gehabt hatte, dann nicht um seine eigene Sicherheit, erinnerte er sich später. Der fünfzigjährige Junggeselle Jermak hatte keine Familie, die er aus Kyjiw evakuieren musste, und hatte deshalb beschlossen, an Selenskyjs Seite zu bleiben, was auch immer geschah. Viele seiner Kollegen konnten diese Entscheidung nicht so leicht fällen.
Manche trafen an jenem Morgen mit Familie und Gepäck im Auto in der Bankova-Straße ein, weil sie eine organisierte Evakuierung des Präsidentenstabs erwarteten. Selenskyj stellte sich ihnen nicht in den Weg. Solange diese Mitarbeiter um Erlaubnis baten, ihre Angehörigen aus der Stadt zu bringen, durften sie gehen. »Wir sind alle Menschen«, sagte er. »Und es mussten einige schnelle Entscheidungen getroffen werden.«
Der Präsident seinerseits beschloss, dass seine Familie fliehen müsse. Das Risiko einer Bombardierung war viel zu hoch, und er stellte strengere Anforderungen an ihre Sicherheit als an seine eigene. Die Verabschiedung an jenem Tag war unsentimental. Die Präsidentenfamilie begab sich nicht einmal in einen privaten Raum, um zu reden. Sie umarmten sich auf dem Flur und wechselten hastig ein paar Worte, während Selenskyj von einer Besprechung zur nächsten eilte. Seine Frau kann sich nicht erinnern, dass er ihr irgendwelche Zusicherungen gemacht hätte. Nach fast zwei Jahrzehnten Ehe überraschte sie die Kürze des Abschieds nicht. Aus leidvoller Erfahrung wusste sie, dass ihr Mann seine Arbeit über alles andere stellte. Als sie dort auf dem Flur standen, versprach Selenskyj ihr nicht, dass alles gut würde.
»Er wusste, dass mich das nur in Panik versetzt hätte«, sagte mir Olena später. Die Gefahr war für beide noch immer abstrakt, und die Reaktion der First Lady bestand darin, Gelassenheit vorzutäuschen. »Es durfte kein verzweifelter Abschied werden«, sagte sie. »So was können die Kinder nicht brauchen.« Ihr Auftritt für die Kinder ließ die Situation weniger ernst erscheinen. »Es war, als würde ich in den Urlaub fahren«, sagte sie, »ein ganz normales, ruhiges Gespräch vor der Abreise.«
In Wirklichkeit liefen Olena und die Kinder um ihr Leben. Am Kyjiwer Hauptbahnhof stand ein Zug, der sie aus der Stadt bringen sollte, wobei ihr Ziel selbst unter den engsten Vertrauten des Präsidenten ein Geheimnis war. Auf Anweisung der Präsidentengarde hielt die Staatseisenbahn eine Lokomotive zur Abfahrt bereit, für den Fall, dass Selenskyj beschloss, die Hauptstadt zu verlassen. Ab und zu ging eine Gruppe von Sicherheitsleuten durch die Waggons und untersuchte sie in Erwartung seines Eintreffens auf Bedrohungen. Aber Selenskyj kam nicht. Der Zug seiner Familie fuhr ohne ihn ab und ratterte mit seiner Frau, den beiden Kindern, ihrem Team von Leibwächtern und ihrem Rollkoffer aus dem Bahnhof.