Putins Parallelwelten

Propaganda in Russland
Eine Kolumne von Mikhail Zygar
In Europa verhungern die Menschen, Berlin holzt den Tiergarten ab: Moskaus Staatsmedien fantasieren sich ins Bodenlose. Dagegen war die Indoktrination der Sowjetunion harmlos.
06.11.2022, 12.04 Uhr

Fernsehpersönlichkeit Wladimir Solowjow (l.) ist einer der führenden Staatspropagandisten

Jetzt bricht die russische Propaganda alle Rekorde. Sie lässt die Russen nach und nach in eine völlig fiktive Welt eintauchen. Sie ist so weit von der Realität entfernt wie nur möglich. Doch dies ist nicht das ganze Problem.

In den letzten Wochen hat sich ihr Schwerpunkt verlagert. Das Hauptthema ist nun das schreckliche, einfach unerträgliche Leben in Europa. Überall auf der Welt leiden und sterben die Menschen an Hunger und Kälte – und das nur, weil sie derart unvorsichtig waren, mit Russland zu streiten. So schreiben es die Staatsmedien.

Die staatliche Nachrichtenagentur berichtete kürzlich, der Tiergarten in Berlin sei abgeholzt worden, weil die Bewohner der deutschen Hauptstadt mit Brennholz heizten. Dann gab es die News, dass die Europäer getrockneten Dung für ihre Öfen sammelten, weil die Bäume ausgingen. Ach, und in Europa werden die Lebensmittel knapp. Keine Übertreibung – so berichten es Journalisten der staatlichen Presse in aller Ernsthaftigkeit.

Und unglaublicherweise erfreut dieses Bild viele Russen. Lange schon haben sie das Gefühl, ihr Leben sei ärmer als das der Europäer. 2014 hat die russische Propaganda einen neuen Kurs eingeschlagen: Sie erhöht das Selbstwertgefühl der russischen Bevölkerung auf Kosten Europas. Dort steht alles in Flammen, überall gibt es nur Katastrophen, Verbrechen, Terrorismus, Obskurantismus. Einzig Russland ist eine Insel der Stabilität, es gibt genug zu essen und der russische Staat schützt die Menschen.

Zwei Beweise lieferte das russische Fernsehen für das im Sterben liegende Europa: Erstens werde Europa von Migranten überrannt. Zweitens unterdrücke die LGBT-Gemeinschaft alle anderen. Seit dem Ausbruch des Krieges mussten die Staatsmedien sich jedoch besonders anstrengen. Als der Lebensstandard in Russland aufgrund der Sanktionen zu sinken begann, erklärte das Fernsehen, in Wirklichkeit seien die Europäer und nicht die Russen die Leidtragenden.

Sowjetische Medien fantasierten nicht

Die neue Propaganda erinnert an die Sowjetunion. Damals war sie ebenfalls auf den Gegensatz zwischen Ost und West ausgerichtet. So beschrieb etwa die Zeitung Prawda detailliert, wie die Schwarzen in Amerika unterdrückt wurden und wie hoch die Arbeitslosenquote in den kapitalistischen Ländern war. »Der Frühling ist in die Straßen von Paris eingezogen, aber er gefällt den einfachen Parisern nicht«, lautete der legendäre Satz eines sowjetischen Fernsehkolumnisten.

Sowjetische Propagandasendung 1984: Damals wie heute auf den Gegensatz zwischen Ost und West ausgerichtet

Es gab allerdings wichtige Unterschiede im Vergleich zur heutigen Indoktrination. Die sowjetischen Medien erlaubten sich größtenteils keine Fantasien. Zwar berichteten sie über Nebensächlichkeiten, finanzierten prosowjetische Organisationen und blähten dann deren Bedeutung auf oder interpretierten Ereignisse zu ihrem eigenen Vorteil. Parallelwelten haben sie jedoch nie geschaffen. Sie wussten, ironischerweise, dass sie in keinem abgeschlossenen Raum lebten und dass unverhohlene Fiktion immer aufgedeckt werden würde – und die Täter bestraft werden könnten.

Ausgerechnet in einer globalen Welt mit Internet, ausgerechnet im Informationszeitalter, scheint es solche moralischen Zwänge nicht mehr zu geben. Im Gegenteil, die Medien denken sich aus, was sie wollen. Ganz so, als gäbe es keine einzige richtige Realität – jede Fiktion ist so glaubwürdig wie das Leben selbst. Journalisten scheuen sich nicht mehr, die Welt zu konstruieren, die sie wollen oder die den Interessen ihres Auftraggebers – also der Regierung – entspricht.

Die Einwohner der UdSSR glaubten dem Zentralfernsehen außerdem kein Wort. Über die wichtigste sowjetische Zeitung scherzten sie, in der »Prawda« stecke keine Wahrheit. Jetzt ist alles anders. Noch die verrückteste und wahnhafteste Propaganda funktioniert, sie sieht überzeugend aus und Millionen von Zuschauern lassen sich davon überzeugen.

Zehn Jahre ist es her, da wurde ein erstaunlicher Cocktail kreiert. Die Kreml-Ideologen sorgten sich, weil die leblosen, sowjetisch anmutenden Fernsehmoderatoren die Zuschauer nicht mehr begeisterten. Man wollte ihnen nicht zuhören, ihnen nicht glauben. Also orientierten sich die Kreml-Ideologen am Westen, insbesondere am amerikanischen Sender Fox News. Sie verwandelten die zugeknöpften Propagandisten in lebendige Menschen – sogar in leicht verrückte Großstädter. Sie brachten sie dazu, sich anzuschreien, zu verfluchen, einander live auf Sendung zu verprügeln.

Sowjetische Propaganda, multipliziert mit Fox News – das brachte Quote! Es stellte sich heraus, dass die Fernsehsender gar nicht die Wahrheit sagen müssen, sondern nur das, was die Zuschauer hören wollen. Populistische Propaganda, die nicht auf der Realität beruht, sondern auf den niederen Vorlieben des Zuschauers. Auf Hurrapatriotismus, Fremdenfeindlichkeit und Homophobie. Ein unglaubliches Phänomen. Und viele derjenigen, die das neue russische Fernsehen hassten, konnten sich dennoch nicht von ihm losreißen.

Der Unsinn wird bleiben, auch wenn Putin stirbt

Möglicherweise führt die Propaganda die russische Gesellschaft in eine Falle. Dies erinnert auch an den hervorragenden Film »Goodbye, Lenin« aus dem Jahr 2003. Dort schafft ein liebender Sohn für seine todkranke Mutter eine fiktive Realität: Er behauptet, die Berliner Mauer sei nicht gefallen, die DDR existiere noch und Erich Honecker sei weiterhin an der Macht. Sogar gefälschte Nachrichten dreht der Sohn für die Mutter. Inzwischen nimmt der größte Teil Russlands die Rolle dieser sterbenden Mutter ein. Die nämlich glaubt gehorsam all den Unsinn, der im Fernsehen gezeigt wird.

Natürlich besteht die Möglichkeit, dass, ganz wie im Film, die Täuschung irgendwann auffliegt. Die kränkelnde Öffentlichkeit wird erkennen, dass sie belogen wird – die Diskrepanz zwischen der Realität und dem Fernsehbild ist nur allzu offensichtlich. Aber leider gibt es auch einen anderen Weg. Wir wissen heute, dass eine erfundene Realität sehr hartnäckig sein kann. Millionen von Menschen können in ihren fiktiven Welten leben und ihre Fantasien weiter verbreiten.

Die sowjetische Propaganda hat mehrere Generationen geprägt und traumatisiert, obwohl sie so wenig überzeugend war. Der derzeitige Unsinn der russischen Staatsmedien wird größeren Schaden verursachen als den, den Putin jetzt anrichtet – denn er wird bleiben, selbst dann, wenn Putin stirbt.