Kriegsgefangener über Haftbedingungen in Russland

Als der Krieg beginnt, kämpft der Ukrainer Oleksij Anulja für sein Land. Russische Soldaten nehmen ihn gefangen.

Wie überlebt ein Mensch, der in Haft zerstört werden soll?
Ein Protokoll.

Aus Ternopil berichtet Alexander Kauschanski • 23.06.2024 • aus DER SPIEGEL 26/2024

Oleksij Anulja kurz nach seiner Freilassung aus russischer Gefangenenschaft im Januar 2023 (l.) und im Krankenhaus etwa 12 Monate später (r.) Foto: Privat (l.); Fedir Petrov / DER SPIEGEL

Mitte Januar liegt Oleksij Anulja im Krankenhaus Nr. 1 in Ternopil, der Westukraine. Sein rechter Arm hängt in einem Verband. Auf der Station für Unfallchirurgie erholt sich der 30-jährige Ukrainer von einer Schulteroperation. Es ist das 36. Mal in etwas mehr als einem Jahr, dass Anulja in einem Krankenhaus behandelt wird.

Als der Soldat an Silvester 2022 nach fast zehn Monaten russischer Kriegsgefangenschaft freigekommen war, war er bis zur Unkenntlichkeit abgemagert. Ihm fehlten Zähne, an seinen Beinen faulte das Fleisch, seine Knochen waren gebrochen. Von den Muskeln des ehemaligen Kickbox-Meisters war nichts mehr zu sehen. Mehr als ein Jahr später kämpft er immer noch darum, gesund zu werden.

Seit Beginn des russischen Angriffskrieges tauschten Russland und die Ukraine über 50-mal Gefangene aus. Mehr als 3000 Ukrainer wurden freigelassen, auch Oleksij Anulja. Weil er so detailgenau über seine Gefangenschaft spricht, ist Anulja seitdem ein Medienphänomen geworden, Millionen Ukrainer haben seine Interviews auf YouTube gesehen.

Länger als sechs Stunden wird er an diesem Abend erzählen. Mal wird er auf seinem Krankenbett sitzen, mal liegen, mal Schokopralinen essen. Nur ein einziges Mal wird er das Gespräch unterbrechen, um ins Bad zu gehen.

Anulja sagt, er erzähle von seiner Gefangenschaft, um das Unrecht, das ihm widerfahren ist, sichtbar zu machen. Und er möchte an die mehr als 8000 Ukrainer erinnern, die noch immer in russischen Gefängnissen sitzen.

Oleksij Anulja auf seinem Krankenhausbett im Januar 2024: Das 36. Mal in etwas mehr als einem Jahr, dass Anulja behandelt wird

Bis ins Detail lässt sich Anuljas Geschichte nicht überprüfen. Im Krieg Russlands gegen die Ukraine bilden Informationen eine weitere Front, an der Wahrheit mit Lüge kämpft, Propaganda mit Aufklärung. Nur wenig dringt aus Wladimir Putins Diktatur nach außen, besonders Russlands Haftanstalten sind abgeschottet. Regelmäßig gelangen dennoch Foltervideos an die Öffentlichkeit, die von systemischer Brutalität zeugen.

Trotz fehlenden Zugangs dokumentieren Menschenrechtsorganisationen und die Vereinten Nationen die Haftbedingungen. Die Uno hat dafür mit mehr als 200 befreiten Ukrainern gesprochen. In ihren Dossiers wirft sie Russland vor, humanitäres Völkerrecht zu brechen, möglicherweise Kriegsverbrechen zu begehen. Es geht um misshandelte Gefangene, mangelhafte Ernährung, schlechte medizinische Versorgung, Folter, sexualisierte Gewalt und Hinrichtungen. In einem der Dokumente wird Anulja zitiert.

Der SPIEGEL ist Anuljas Schilderungen so weit wie möglich nachgegangen. Er hat Arztbriefe, Foto- und Videomaterial mit seiner Erzählung abgeglichen, sie anhand von Berichten internationaler Organisationen geprüft. Die medizinischen Dokumente, die Akten, Bilder seiner Verletzungen, seines ausgehungerten Körpers erzählen von den Folgen der Haft in Russland. Die Geschichte seiner Kriegsgefangenschaft erzählt Anulja in seinen eigenen Worten.

»Ich war ein Soldat, ein Feind, ein Ukrainer.«

»Am 24. Februar 2022 weckte mich mein Handy. Eine alte Jugendfreundin rief mich aus Russland an. Vom Fabrikgelände ihres Mannes feuerten sie Raketen auf die Ukraine. ›Ist doch großartig‹, sagte sie. ›Bald werden wir in einem Land leben.‹

Oleksij Anulja vor der russischen Invasion: Er arbeitete als Bodyguard eines ukrainischen Oligarchen

Einen Tag nach Kriegsbeginn umzingelten russische Truppen meine Heimatstadt. Tschernihiw liegt nur 90 Kilometer von Russland entfernt. Vorher habe ich als Bodyguard eines ukrainischen Oligarchen gearbeitet. Jetzt meldete ich mich zum Kriegsdienst, um mein Land und meine Kinder zu verteidigen. Ein letztes Mal kehrte ich nach Hause zurück. Ohne mich richtig zu verabschieden, setzte ich meine Familie ins Auto Richtung Kiew. Dann stellte ich mich unter die Dusche und weinte. Ich fürchtete, meine Mutter, meine Frau, meinen kleinen Sohn, meine Tochter nie wiederzusehen.

Anfang März hielten wir in Lukaschiwka nach feindlichen Truppen Ausschau. Wir sollten das Dorf schützen, damit Zivilisten weiter über die Landstraße fliehen konnten. Spätnachts legten wir uns in einem verlassenen Haus am Dorfrand schlafen. Frühmorgens schreckte ich hoch. Ich hörte Panzer rollen. Dann eine Explosion, eine zweite, dritte. Die Russen drangen ins Dorf ein.

Eine Detonation schleuderte mich zu Boden. Mein Soldatenhelm war zerbrochen. Alles fiepte. Ich spürte ein Stück Knochen in meinem Mund. Am Boden lag mein Kamerad. Die Hälfte seines Kopfes fehlte. Ich schüttelte ihn, verstand nicht, dass er tot war.

Zerstörtes Haus in einem ukrainischen Dorf bei Tschernihiw 2022: »Die Russen drangen ins Dorf ein« Foto: NurPhoto / IMAGO

Ich kroch aus dem Haus, sah die Panzer auf mich zukommen und rannte. In einem Graben versteckte ich mich. Hörte, wie sie die Häuser durchsuchten. Mein Gewehr richtete ich unter mein Kinn. Sollten sie mich finden – ich war bereit, abzudrücken. Zwölf Stunden lang harrte ich so aus

Als es still wurde, kroch ich raus. Es war Nacht. Ich robbte durch die Dunkelheit. Hörte ich Geräusche, wusste ich nicht, ob es Russen waren oder Wildschweine. Am nächsten Morgen sah mich eine alte Frau, sie muss mich verraten haben. Kurz darauf stürmten vier Soldaten auf mich zu, zielten mit ihren Gewehren auf mich. Würden sie mich töten?

Sie raubten mich aus. Nahmen mein Messer, meine Uhr, mein Handy. Als ihr Kommandeur dazukam, sollte ich den Mantel ausziehen. Darunter sahen sie meine Wunden, die zerrissene Uniform und begriffen: Ich war ein Soldat, ein Feind, ein Ukrainer.

›Du bist Kickboxer, oder?‹

Die Soldaten brachten mich auf einen alten Bauernhof nahe der belarussischen Grenze. Gefesselt warfen sie mich in einen Raum, zu einem anderen ukrainischen Soldaten. Dreckiges Tier, sagten die Soldaten, als sie sahen, dass er sich eingeschissen hatte. Ein Schuss, er war tot.

Mich prügelten sie. Ein Soldat hielt sein Gewehr an mein Knie. Erst wollte er Informationen. Dann sagte er: ›Na, du Drecksukrainer, hast du deinen Arsch gewaschen?‹ Ich sollte mich ausziehen. Er zog seine Hose runter. Seine Knie berührten meine Waden. Er griff an meinen Hintern.

Es gelang mir nicht, meine Hände aus der Fessel zu befreien. Ein anderer hielt mich fest und sagte: ›Schneller. Ich will auch noch.‹ Draußen verbrannten Leichen auf einem Lastwagen, ich war blutverschmiert. Plötzlich: ein Knall, die ukrainische Artillerie griff das Gelände an. Die Soldaten rannten weg, ich blieb nackt auf dem Boden liegen.

Am nächsten Morgen kamen sie zurück. Sie fesselten meine Hände mit einem Kabel und zogen mich zur Decke hoch. Dort baumelte ich. Bald spürte ich meine Hände nicht mehr. Sie färbten sich lila, schwollen an auf die Größe meiner Oberschenkel. Alle paar Stunden kamen andere Soldaten, um mich zu schlagen. Mehrere Tage verbrachte ich unter unerträglichen Schmerzen. Meine Krankenakte zeigt die Folgen: überdehnte Muskeln, Sehnenschäden.

Nur ein Wunder rettete mich: Der Hof wurde wieder beschossen, die Soldaten zogen mich runter. Ein neuer russischer Soldat erkannte mich. ›Du bist Kickboxer, oder?‹ Er habe mal in einem Wettkampf gegen mich verloren. Ich machte mich aufs Schlimmste gefasst. Doch er bandagierte meine Wunden, brachte Essen, führte mich zur Toilette. Eines Morgens hielt er mir eine Thermohose hin. ›Man wird dich wegbringen‹, sagte er. ›In Russland wird es härter, aber dort stehen deine Chancen zu überleben besser.‹

Oleksij Anulja als Kickboxer vor der russischen Invasion: Der russische Soldat kannte ihn von einem Wettkampf Foto: Fedir Petrov / DER SPIEGEL

›Wir bereiten euch euer eigenes Auschwitz‹

In einem kleinen Bus brachten sie mich über die russische Grenze, in ein Zeltlager. Ein paar Wochen später fuhren sie mich mit anderen Kriegsgefangenen in ein Untersuchungsgefängnis in Kursk. 40 Tage verbrachte ich dort. Anfang Mai steckten sie uns mit zugeklebten Mündern, Tüten über dem Kopf in ein Flugzeug. Sie sagten, wir würden nach Hause fliegen. Als wir ausstiegen, verprügelten uns russische Spezialeinheiten. Mein Bein hatte angefangen zu verrotten. Durchgestreckt tat es höllisch weh. Also hielt ich es abgespreizt vom Körper, auf dem anderen hüpfte ich. Sofort gaben die Russen mir den Spitznamen ›Grashüpfer‹.

In der Nacht erreichten wir die Strafkolonie Nr. 1 in Donskoi bei Tula. Grelle Scheinwerfer strahlten auf das zweistöckige Gefängnis hinter der Mauer mit Stacheldraht. Die Wärter prügelten uns mit Schlagstöcken, traktierten uns mit Elektroschockern. Zu 50 drängten sie uns auf einen kleinen Hof. Dort mussten wir stundenlang ausharren. Wir sollten in einen Kanister pinkeln, durften ihn nicht auf russischem Boden ausleeren. Bei wem der Kanister voll wurde, musste ihn austrinken.

Jeden Morgen mussten wir um 5.50 Uhr aufstehen. In der eisigen Zelle ließen sie uns wieder und wieder die russische Nationalhymne singen. Zum Frühstück gab es drei Löffel Haferbrei, eine Scheibe dünnes Weißbrot und ein kleines Glas kochend heißen Wassers.

Um 9.30 Uhr führten uns die Wärter auf den Hof. ›Faschisten‹ nannten sie uns. Sie sagten: ›Wir bereiten euch euer eigenes Auschwitz.‹ Sie schlugen uns mit Knüppeln und droschen mit Rohren auf uns ein. Währenddessen sangen die anderen die russische Nationalhymne. Die Schreie der Gequälten konnten wir trotzdem hören. Kaum etwas ist furchterregender als das Jaulen erwachsener Männer.

Die meiste Zeit mussten wir in der Zelle stehen, die Hände hinter dem Rücken, den Kopf gesenkt. Ein Klopfen des Aufsehers bedeutete, den ›Chef‹ zu grüßen. Zweimal – melden, wie viele Gefangene auf der Zelle waren. Dreimal – 500 Kniebeugen. Vier – wie das gelbe Pokémon ›Pika-pikachuuu‹ schreien. Fünf Schläge, rufen: ›Selenskyj ist eine Schwuchtel. Biden ist eine Schwuchtel. Putin ist unser Präsident.‹

»Nachts betete ich, nicht bis zum nächsten Tag zu leben«

Nachts betete ich, nicht bis zum nächsten Tag zu leben. 24/7 hämmerte mein Herz. Ich wartete darauf, dass sie die Zelle öffnen, mich schlagen, würgen, erniedrigen. Ständig hörte ich jemanden auf dem Flur schreien. Schaute ich meine Mitgefangenen an, sah ich die Angst in ihren Augen.

Tor einer russischen Strafkolonie: »24/7 hämmerte mein Herz« Foto: Dimitar Dilkoff / AFP

Fast drei Stunden lang musste ich auf meinen dreckigen Socken herumkauen. Zum Spaß zogen sie mir mehrere Zähne. Sie zwangen mich, Wasser aus einer Pfütze im Mund an eine andere Stelle im Hof zu tragen. Ich zählte mit, 14-mal musste ich auf den Elektrostuhl, bis mein ganzer Körper krampfte.

Einmal blutete ich so stark, dass sie mich zur Gefängnisärztin brachten. ›Die Aufseher schlagen dich nicht, sie erziehen dich um‹, sagte sie, statt mich zu behandeln. ›Wir impfen dich gegen den Faschismus, dagegen, ein Nazi zu sein.‹ Meine selbst gemachten Verbände wusch ich mit Urin.

Um 22 Uhr durften wir schlafen gehen. Kaum waren wir eingeschlafen, schallte es durch die Zelle: ›Aufstehen, ihr Schlampen!‹ Synchron begannen wir mit Kniebeugen – 500, oft 1000. Immer wieder sanken Gefangene zu Boden, vor allem Ältere, Hungernde, Schwache. Ihre Leichen blieben liegen, bis man sie am nächsten Abend wegschleifte.

»Ich zog mein Laken vom Bett, wollte mich an den Gitterstäben erhängen«

Ende August 2022, nach dreieinhalb Monaten, verlegten sie mich in eine Strafkammer. Hier war ich allein. Wasser tropfte von den schimmelnden Wänden. Es gab kein Fenster, nur eine flackernde Glühbirne. Als der Winter kam, war die Kälte kaum zu ertragen. Ein Gedanke hielt mich am Leben: Sollte ich in Russland sterben, könnten meine Kinder mich nicht am Grab besuchen.

Ich ernährte mich von Zahnpasta, die ich aus dem Abfall fischte, ich kaute auf Toilettenpapier gegen den Hunger. Auf dem Hof sammelte ich Regenwürmer, kein Stück Schokolade hat seitdem so köstlich geschmeckt. Es gelang mir, eine Ratte zu fangen. Die Wärter sahen auf dem Überwachungsvideo, dass ich mich bewegte. Sie zerrten mich aus der Zelle, ich hatte sie mir schon in den Mund gesteckt. Das Tier kratzte und biss mir in die Zunge. Die Wärter prügelten mich, bis sie sahen, wie mir Blut aus dem Mund rannte. Es war nicht meines. Glücklich kroch ich in meine Zelle zurück. Die Ratte würde mir helfen zu überleben.

Im Dezember zeigten die Wärter mir eine Liste, sie planten einen Gefangenenaustausch. Einzig mein Name war nicht markiert. Sie sagten, sie würden mich dabehalten. An jenem Tag zog ich mein Laken vom Bett, ich wollte mich an den Gitterstäben erhängen. Dann passierte etwas Unerwartetes. Meine verstorbene Großmutter erschien am Waschbecken. ›Wo willst du hin?‹, fragte sie. ›Du hast deinen Kindern doch noch keine Neujahrsgeschenke besorgt.‹ Die Halluzination rettete mich. Bevor ich mich erhängen konnte, rissen die Wärter die Tür auf.

Zwei Tage später, am 28. Dezember 2022, sollte ich meine Sachen packen. Ich konnte kaum noch laufen. Erst flog ich nach Kursk. Am nächsten Morgen verluden sie uns in zwei Busse. Die russischen Wächter sagten, man würde uns erschießen. Der Soldat neben mir im Bus flüsterte: ›Ich will weglaufen, noch einmal ertrage ich das nicht.‹ Als der Bus stoppte und die Wächter ausstiegen, rannten wir los – doch wir stolperten noch im Bus und fielen zu Boden.

Ein Mann stieg ein. ›Sehen so etwa ukrainische Helden aus?‹, sagte er. Erst dachte ich, die Russen würden sich über uns lustig machen. Aber vor uns stand ein ukrainischer Geheimdienstler. Er half uns hoch.

Oleksij Anulja nach dem Geiselaustausch am 31. Dezember 2022: ›Sehen so etwa ukrainische Helden aus?‹ Foto: Privat

Als wir aus dem Bus stiegen, fühlte ich mich wie betäubt. Links erblickte ich russische Kriegsgefangene, Tschetschenen mit ihren Bärten, gut genährt, so erinnere ich mich. Sie tauschten uns aus. Nachts, kurz nach Neujahr 2023, kehrten wir in die Ukraine zurück.

»Mein Sohn erkannte mich nicht wieder«

Kaum hatten wir die Grenze überquert, griff Russland mit Raketen an. In einem Aufnahmelager in Sumy erzählte man uns, wie es um die Ukraine stand. Cherson war befreit, das Land um Charkiw – und auch Tschernihiw, meine Heimatstadt, war nicht mehr unter russischer Besatzung. Ich war frei, doch ich fühlte nichts. Keine Freude, keine Wut.

Am selben Tag kam meine Familie. Meine Frau hatte bis zum letzten Moment nicht geglaubt, dass ich freigekommen war. Mein Sohn, mittlerweile fünf Jahre, erkannte mich nicht wieder. Meine ältere Tochter weinte, als sie mich so mager sah. Ich wollte erfahren, wie es ihnen ergangen war – und erzählen, was mir passiert war.

Aber mir fehlten die Worte.

Ich erfuhr, dass mein Vater tot war. Auch er war von russischen Soldaten gefangen genommen worden. In einer Kirche hatten sie ihn bei lebendigem Leibe verbrannt.

Vom vielen Essen, das meine Familie mitgebracht hatte, aß ich nur einen kleinen Happen. Mein Magen war geschrumpft. Als sie nach einer Stunde wieder wegfahren mussten, atmete ich auf. Ich hatte mich ans Alleinsein gewöhnt.

»Es hat gedauert, bis ich lernte, wieder zu lächeln«

Vor der Gefangenschaft wog ich 102 Kilogramm, nach meiner Rückkehr 40 Kilo weniger. Meine Nase war gebrochen, der Kiefer verrenkt. Mein Schlüsselbein und acht Rippen waren gebrochen. Meine Muskeln waren gerissen, die Menisken beschädigt.

An einigen Stellen waren meine faulenden Beine schon schwarz. Als die Ärzte im Lager sie sahen, setzten sie mich in einen Rollstuhl. Sie brachten mich in ein Krankenhaus. Einige Ärzte wollten meine Beine amputieren. Andere gaben mich nicht auf. Es zahlte sich aus: Nach ein paar Wochen stand ich wieder, ein paar Wochen später konnte ich laufen.

Es hat viel länger gedauert, bis ich lernte, wieder zu lächeln.

Oleksij Anulja auf seinem Krankenhauszimmer in Ternopil: Seine Muskeln waren gerissen, die Menisken beschädigt Foto: Fedir Petrov / DER SPIEGEL

Sechs Monate lang wurde ich in ukrainischen Krankenhäusern behandelt, vier Monate in Israel und Lettland. Erst Anfang November 2023 kehrte ich nach Hause zurück. ›Papa tut mir so leid‹, sagte meine Tochter. ›Er ist so schwach geworden.‹ Mein Sohn sagte, ich hätte die Familie im Stich gelassen. Ich sollte ihm versprechen, nie mehr wegzugehen. Das konnte ich nicht. Mit meiner Frau ist es schwierig. Zweimal hätten wir uns fast getrennt. Sie findet es egoistisch, dass ich irgendwann wieder in die Armee will. Ich erkläre ihr, dass ich gehen muss, damit unsere Kinder nicht auch eines Tages in den Krieg ziehen.«

Mitarbeit: Katja Lutska