Irina Yakutenko

Biologist looks at propaganda

Surely you know someone who blindly believes everything the propaganda tells them. What if this someone is your loved one? Is there a way to convince him and explain that in reality everything is completely different from what he was told on TV or on the Internet? In this video we talk about ways to influence a person’s current picture of the world.

Как разговаривать с теми, кто поддался на пропаганду
How to talk to those who have succumbed to propaganda

Video with an analysis of the main techniques used by propagandists:
How to understand that they want to deceive you: basic propaganda techniques

Video analyzing the brain mechanisms that make us (and especially some of us) sensitive to propaganda:
Why do so many people believe fake news and propaganda?

Arnold Schwarzenegger video:
A message to the Russian people


Hippe Hauptstadt

Was zieht so viele Russen nach Berlin?

Der russische Staat schafft mit seinen Repressionen eine Atmosphäre der Angst – besonders bei Qualifizierten. Die Zahl der Auswanderer mit Doktortitel hat sich verfünffacht. Besonders beliebt ist Deutschland als Ziel.

Von NIKOLAI KLIMENIOUK

Molekularbiologin Irina Yakutenko sah für sich keine Zukunft mehr.

Irina Yakutenko ist Molekularbiologin und Wissenschaftsjournalistin, ihr aktuelles Buch „Das Virus, das die Welt zerbrach“ machte sie in Russland zu einer gefragten Expertin zum Thema Covid-19. Doch die 37- jährige Autorin lebt nicht in Russland, sondern in Berlin- Friedrichshain. Man könnte meinen, sie sei ein typisches Mitglied der bunten Berliner Expat-Community mit ihren interessanten Jobs und coolen Projekten. Da gibt es aber einen Unterschied: Sie kam nach Deutschland vor drei Jahren, um hier zu bleiben, weil sie in ihrem Heimatland für sich und ihre Familie keine Zukunft mehr sah. Und das macht sie zum Teil einer anderen Gruppe, die gerade schnell an Sichtbarkeit gewinnt: politisch motivierte Migranten aus Russland.

Politische Migration sei generell ein schwer zu erfassendes Phänomen, sagt die Soziologin Daria Skibo, 31, seit zwei Jahren in Deutschland. Man habe keine zuverlässigen Daten, um wie viele Menschen es sich handelt, aus welchen Gründen sie genau kämen und welche Kanäle sie nutzten, um in Deutschland zu bleiben. Immer mehr Russen hätten durchaus einen Anspruch auf Asyl: Sie wurden verfolgt, weil sie zum Beispiel an Protesten teilgenommen haben, bei kritischen Medien oder NGOs arbeiteten, sich zivilgesellschaftlich engagierten oder wegen ihrer von der staatlich verordneten Norm abweichenden Sexualität. Einige beantragen tatsächlich Asyl, doch deren Zahl ist vergleichsweise gering, gemessen an den circa 10.000 Menschen, die jährlich aus der Russischen Föderation nach Deutschland zuwandern. 2019 stellten 3145 russische Bürger einen Asylantrag, 472 wurden angenommen, etliche nach jahrelangem Warten, Ablehnung und Revision. Alle, die es sich leisten können, sagt Skibo, würden einen anderen Weg wählen: „Wer besser gebildet und vernetzt ist, gut Deutsch oder Englisch spricht, Geld hat oder Verwandte in Deutschland, stellt keinen Asylantrag.“

„Für mich fing es im Jahr 2011 an“

Eine vermutlich viel größere Gruppe bilden diejenigen, die sich bedroht fühlen, aber noch keine konkrete Verfolgung erlebt haben. „Sie wissen“, sagt Skibo, „dass der Genosse Major sie bereits im Visier hat“ – eine seit der Sowjetzeit gängige Metapher für den repressiven Staat. Immer mehr Leute kennen jemanden, der bereits verhört, verhaftet, verurteilt oder zum ausländischen Agenten erklärt wurde, eine Hausdurchsuchung erlebt, seine Arbeit oder den Studienplatz aus politischen Gründen verloren hat. Das beeinflusst die Stimmung und beschleunigt Abwanderungspläne.

„Für mich fing es im Jahr 2011 an“, sagt Irina Yakutenko. „Nach den Massenprotesten gegen gefälschte Wahlen.“ Sie war Wissenschaftsredakteurin bei dem damals führenden unabhängigen Onlinemedium Lenta.ru. Die Redaktion kam auf die Idee, Journalisten aus allen Ressorts als Reporter einzusetzen, und so saß sie tagein, tagaus in Gerichtssälen, um über Prozesse gegen Protestteilnehmer zu berichten. Wobei Teilnehmer in solchen Prozessen nicht immer wörtlich zu nehmen ist: Ein Bekannter von ihr sei angeklagt worden, obwohl er gar nicht bei der Demo war. Er habe Beweise seiner Unschuld zusammengetragen, doch der Richter habe sich die Unterlagen nicht einmal angeschaut und eine empfindliche Geldstrafe verhängt. Der Bekannte, der inzwischen auch im Ausland lebe, sei geschockt gewesen, Yakutenko nicht wirklich: „Natürlich habe ich schon gewusst, dass so etwas passiert, aber es macht einen ganz anderen Eindruck, wenn du es mit deinen eigenen Augen siehst.“ Im Jahr 2014 wurde die Redaktion von Lenta.ru wegen der nicht linienkonformen Ukraine-Berichterstattung zerschlagen. Die Linie war damals wie jetzt: Hetze. Ein Teil der entlassenen Journalisten gründete ein neues Medium, Meduza, mit Redaktionssitz in Lettland. Im Mai 2021 wurde Meduza in Russland zum „ausländischen Agenten“ erklärt und so von allen Werbeeinnahmen aus Russland abgeschnitten.

„Immer mehr Russen spüren, dass der Druck wächst und der Raum der Freiheit für sie immer enger wird“, sagt Skibo. „Gestern haben sie Meduza gelesen, und heute ist Meduza schon ein ausländischer Agent. Gestern haben sie irgendwelche Vorträge gehalten, heute ist das auf einmal eine Straftat, darauf steht nach dem neuen Gesetz über ‚aufklärerische Tätigkeit‘ eine Geldstrafe.“ Streng genommen darf man jetzt ohne staatliche Genehmigung nicht einmal mehr ein Video posten, in dem man die Lösung einer Mathe-Aufgabe erklärt. Jeden, der auf sozialen Netzwerken etwas schreibt oder teilt, betrachtet der russische Staat inzwischen als einen Journalisten, was jedwede Aktivität zum Risiko macht. Das alles erzeugt eine Unzufriedenheit und Angst, die Soziologen als „Auswanderungsstimmung“ messen können. Laut einer Umfrage des Levada-Instituts für Meinungsforschung wollten im Jahr 2019 über 50 Prozent junger Menschen Russland verlassen, heute dürften es noch mehr sein. Wenn man dann tatsächlich wegen der Stimmung auswandert, spricht die Forschung von „atmosphärischer Emigration“. Viele wären schon früher gegangen, sagt Skibo, aber dachten, der Druck sei nicht so stark, oder sie verdienten sehr gut in ihren Berufen. Andere planten ihren Umzug von langer Hand.

Einige Male angegriffen und zusammengeschlagen

Dunja Ernst (Name geändert) ist 38 Jahre alt, studierte Informatikerin, in Moskau war sie aber DJ und Musikredakteurin. Und sie wusste schon lange: Berlin ist ihre Stadt. Sie hatte viele Kontakte in die dortige Musik- und Filmszene, daraus wurden Geschäftspartnerschaften, Freundschaften, schließlich entstand der Plan umzuziehen. Sie absolvierte einen Deutschintensivkurs und schrieb sich für den Master- Studiengang Filmmusik an der Filmuniversität Konrad Wolf ein. Doch aus dem Studium wurde nichts: Deutsche Behörden hatten irgendein Papier verlegt, und als sie ihr Studentenvisum endlich bekam, war es für das Studium zu spät. Es klappte dann aber mit der Arbeit, ausgerechnet im IT-Bereich.

Informatiker Lev Gershenzon reiste nach Überfall politisch motivierter Schläger aus.

Die Dauererniedrigung beim Beantragen eines Visums war nur einer der Gründe, warum Dunja unbedingt nach Berlin umziehen wollte. In Moskau, erzählt sie, sei sie mit kurzen Haaren und in betont maskulinen Klamotten herumgelaufen: als Statement an die Welt, die homosexuelle Menschen wie sie nicht akzeptieren wollte. Dafür wurde sie einige Male angegriffen und zusammengeschlagen. Die Polizei weigerte sich jedes Mal, eine Anzeige wegen eines Hassverbrechens aufzunehmen: „Sie wussten, dass man mit so einem Papier in Europa leichter Asyl bekommt.“ In Berlin engagiert sie sich ehrenamtlich für homosexuelle Asylsuchende, die oft viel Schlimmeres erlebten, aber anders als sie nicht den Luxus eines international gefragten Berufs hatten. Sie ließ ihre Haare lang wachsen, trägt femininere Kleidung und ist glücklich verheiratet mit einer Russin, die schon seit über dreißig Jahren in Deutschland lebt.

Der 42-jährige Linguist und Informatiker Lev Gershenzon hatte in Moskau einen Traumjob beim Internetriesen Yandex, er war Chef der News-Abteilung. Ab 2011 wurde der politische Druck auf seinen Arbeitgeber immer stärker und erforderte von ihm schließlich so viele Kompromisse, dass er den Job aufgeben musste. Dann kam 2014, die russische Annexion der Krim, die Atmosphäre sei unerträglich geworden, und er habe jede Hoffnung aufgegeben. Im Oktober 2014 war es für ihn so weit. Eine Gruppe von orthodoxen Rowdys griff eine LGBT-Veranstaltung in der Menschenrechtsinstitution Sacharow-Zentrum an, Gershenzon ging hin, um Solidarität mit den Belagerten zu zeigen. Er habe gedacht, erzählt er, er würde dort andere Unterstützer antreffen, doch es waren nur die Schläger da, ein paar Journalisten und ein Drehteam von RT. Er wurde auf den Kopf geschlagen, die Polizei nahm keine Anzeige auf, obwohl es ein Video vom Überfall gab. Die Entscheidung, ausgerechnet nach Deutschland zu gehen, fiel leicht: Gershenzons Frau, eine Filmproduzentin, ist deutschstämmig und besaß bereits die deutsche Staatsangehörigkeit. Jetzt arbeitet sie bei einer deutschen Filmproduktion, und er betreibt eine IT-Firma, die Suchsoftware für Onlinehändler entwickelt.

Die russische Auswanderungsstatistik erfasse zwar nur einen Bruchteil der tatsächlichen Zahlen, sagt Daria Skibo, sie gebe aber gute Hinweise auf die Trends. Früher wanderten unverhältnismäßig viele Menschen aus den Großstädten Moskau und Sankt Petersburg aus, jetzt ziehen sie von überallher weg. Die meisten von ihnen sind nach wie vor Normalos, doch in der Statistik hat sich in den vergangenen sechs Jahren die Zahl der Auswanderer mit einem Doktortitel verfünffacht. Im realen Leben wird es ähnlich sein.

Skibo selbst, die als Stipendiatin nach Deutschland kam, hat sich wie die meisten Auswanderer nicht abgemeldet und taucht in keiner Statistik auf. Ihr letzter russischer Arbeitgeber, das Zentrum für unabhängige soziologische Forschung, wurde bereits 2015 zum ausländischen Agenten erklärt.

Quelle: Frankfurter Allgemeine Quarterly

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