Geschichte der Gegenwart – Der „forensische“ Blick – Geschrieben von Sylvia Sasse am 5. Juni 2022
Ist das Blut, oder ist das viel leicht nicht doch Farbe? Hat sich die Leiche bewegt? Sind die Körper nicht angeordnet wie in historischen Aufnahmen aus dem Zweiten Weltkrieg? Warum tauchen die Fotos erst Tage nach dem Abzug der russischen Truppen auf? Was sagen die Meta-daten dazu?
Wer solche Fragen an Bilder stellt, will in der Regel Fakes entlarven. Bildforensik ist zu einem wichtigen Instrument der Beweisführung von Kriegsverbrechen geworden. Die Recherchegruppe Forensic Architecture hat z.B. bereits 2014 eine Analyse durch geführt, die zeigte, dass sich reguläre Einheiten der russischen Armee auf der Seite der Separatisten in die Schlacht um den Donbas eingemischt hatten. Die Untersuchung mit dem Titel „The Battle of Ilovaisk“ griff auf Open Source Material zurück und wertete Videomaterial, Satellitenaufnahmen und Fotos mit selbstentwickelter Software aus. Eyal Weizman, Begründer von Forensic Architecture, hat die Hinwendung zur materiellen Beweisführung als eine epistemologische Verschiebung bezeichnet, die viel stärker auf eine „Zeugenschaft der Dinge“ als auf Erzählungen von Opfern und Überlebenden setzt. Aber er hat gleichzeitig darauf aufmerksam gemacht, dass auch Dinge nicht einfach als Beweismittel für sich stehen, sondern „die Sprache der Dinge einer
‚Übersetzung‘ oder ‚Auslegung‘“ bedarf.
Fotomaterial auszulegen und zu übersetzen ist auch zu einem Genre der Desinformation geworden. In solchen Fällen wird der forensische Blick nur imitiert, um eine bestimmte Rezeption zu erzeugen. Der forensische Blick dient dann nicht der Suche nach Evidenz, er soll vielmehr zu einer entemotionalisierten Rezeption führen. Es ist ein kalter Blick, der da erzeugt wird, ein technischer Blick, der nicht danach fragt, wer da liegt, wer da gerade gestorben ist, wessen Wohnung auf dem Foto zerbombt wurde und warum? Wenn man so auf Fotos aus dem Krieg gegen die Ukraine schaut, dann blendet man alle Emotionen aus, dann fühlt man nicht mit den Opfern des Krieges mit, sondern wird darauf trainiert, das Foto zu überprüfen, seine Echtheit in Frage zu stellen und diesen Blick für einen kritischen Blick zu halten.
„Forensik“ als Desinformation
Die Erzeugung dieses Blicks ist Teil der russischen Desinformation.1 Seit dem 9. März gibt es im 1. Kanal des russischen Fernsehens eine Sendung in der Kategorie Show mit dem Titel „Anti-Fake“. Die Sendung wird täglich für ca. 40 Minuten ausgestrahlt. Prototypen für dieses Format wurden schon etwas früher verbreitet. Am 3. März twitterte Daniil Bezsonov, ein Beamter der prorussischen Separatistenregion in der Ukraine ein Video, das, wie er schreibt, zeigt, „wie ukrainische Fälschungen gemacht werden“. Um die Fälschung zu erklären, wurden in einem Clip zwei Videos nebeneinandergestellt, die beide die gleiche gewaltige Explosion in einem städtischen Gebiet zeigen. Mit russischsprachigen Untertiteln wurde suggeriert, dass eines der Videos von ukrainischen „Propagandisten“ verbreitet worden sei, um zu behaupten, dass es sich hier um einen russischen Raketenangriff in Charkiv handle. Im gegenüberliegenden Video konnte man dann sehen, woher das Video tatsächlich stammt, von einer tödlichen Explosion eines Waffendepots in der gleichen Gegend im Jahr 2017. Hier sollte also „bewiesen“ werden, dass Ukrainer:innen altes Filmmaterial über den Krieg verbreiten, weil es aktuell gar keine Angriffe gebe.
„Wenn man „forensisch“ auf Fotos aus dem Krieg gegen die Ukraine schaut, dann blendet man alle Emotionen aus und wird darauf trainiert, diesen Blick für einen kritischen Blick zu halten.“
Craig Silverman and Jeff Kao führten dieses Beispiel auf der Website ProPublica schon am 8. März 2022 an, um über das Faktchecking als neues Genre der russischen Desinformation zu berichteten. In ihrem Artikel „Fake Fact-Checks Are Being Used to Spread Disinformation“ stellten sie fest, dass das Video zuvor gar nicht in Umlauf gewesen war. „Stattdessen“, so schreiben sie, „scheint das Entlarvungsvideo selbst Teil einer neuartigen und beunruhigenden Kampagne zu sein, die Desinformationen verbreitet, indem sie sie als Faktenüberprüfung tarnt.“ Erst das Video der angeblichen russischen Faktchecker streute die Fälschung.
Inzwischen begnügt sich das russische „Faktchecking“ nicht mehr mit der Verbreitung angeblich von Ukrainern gefälschter Videos, nun werden alle kursierenden Bilder oder Augenzeugenberichte als „Theater“ „enttarnt“ und Opfer als Krisendarsteller „entlarvt“. Auf diese Weise kann die russische Regierung, die nicht in der Lage ist, die Verbreitung von Kriegsfotos zu verhindern, das intensive forensische Betrachten der Fotos als Modus einer strategischen Fehlrezeption verwenden. Denn wer täglich die Anti-Fake-Sendung schaut, wird zur Spezialistin für auffällige Details, für historische Muster und kleinste Kompositionsfehler. Die Toten verschwinden bei diesem Blick vom Bild.
Butscha-Anti-Fake
In der Sendung vom 5. April 2022 ging es um Butscha, der Titel lautete unmissverständlich: (Butscha – das ist Fake. Die Beweise (Буча – это ФЕЙК! Доказательства). Der Moderator, der in einem grellen Studio sitzt, wiederholt zu Beginn der Sendung das Ziel: „unseren Kampf gegen Desinformation“. Eingeladen hat er diesmal drei Gäste, einen jungen Datenanalysten, einen Journalisten und Historiker und einen Militärexperten. Alle drei haben eine spezifische Funktion, die für die „Aufklärung“ über Desinformation zentral sein soll, der eine liefert Daten, der andere historische Analogien, der dritte evaluiert militärische Strategien.
Der Moderator selbst achtet darauf, dass die wichtigen Sätze gesagt werden und die richtigen Begriffe fallen, zur Not ergänzt er auch mal, wenn es nicht so richtig rund läuft. Im Studio leuchtet das englische Wort Fake – fejk – von allen Wänden, das Tempo der Gespräche ist rasant, die eingespielten Bilder sind vorsichtshalber stets von roten Schriftkreuzen überklebt, auf denen ebenfalls das Wort „fejk“ auf Russisch und Englisch steht. Auf diese Weise sieht man in der Sendung auch die ersten Bilder aus Butscha, die man, wie der Moderator ankündigt, eigentlich lieber nicht sehen möchte. Er selbst, so fügt er später hinzu, stürzte, als er eines der Videos zugeschickt bekam, zunächst in ein „emotionales Chaos“, aber der Blick auf Details habe ihm geholfen, dieses Chaos zu bewältigen. Das ist das Konzept der gesamten Sendung: dem kollektiven Westen eine beispiellose Emotionalisierung vorwerfen, die auf Fakes basiert, den Zuschauern das richtige Sehen beibringen und dabei die Gefühle loswerden. Oder in den Worten der Redaktion der Anti-Fake-Sendung: „Der Westen verfolgt Russland mit einem bestialischen Hass. Videos, die einen in einen Gefühlstaumel versetzen, können sich in Wirklichkeit als seelenlose und zynische Fälschungen entpuppen.“
Quelle: youtube
Die Sendung ist so aufgebaut, dass Schritt für Schritt gezeigt wird, wie die ukrainischen Medien und die Medien aus dem Westen mit jener Strategie arbeiten, die man als typisch für die russische Desinformation bezeichnen kann, der Verkehrung ins Gegenteil. Dem Westen wird unterstellt, Fakes als Realität zu betrachten. Bei der Sendung geht es umgekehrt darum, die Realität konsequent als Fake wahrzunehmen: die Bilder aus Butscha seien alle gestellt, Butscha habe es nicht gegeben.
Der erste Schritt in der Beweiskette der Sendung ist eine „objektive Analyse“ mit Daten. Der Datenanalyst hat auf den Fotos 23 „zweifelhafte Momente“ gefunden, auf die ihn teils aufmerksame Betrachter aus dem Netz aufmerksam gemacht haben sollen: z.B. sollen die Körper auf der einen Aufnahme so liegen, auf einem anderen Foto jedoch anders, die Fahrräder seien auffällig unbeschädigt und zu neu, die Gesichter deshalb nicht zu sehen, damit sie niemand erkennen könne, auch fehle Blut. Als dramaturgischer Höhepunkt wurde eine Zeitkurve eingeblendet, die nahelegen soll, dass die Bilder der Toten erst Tage nach dem Abzug der Russen kursierten. Anders gesagt, der Datenexperte will suggerieren, dass die Leichen erst später hingelegt worden sind.
Andere Versionen und historische Vergleiche
Der zweite Schritt ist die Streuung alternativer Versionen. Was also könnte in Butscha sonst passiert sein? Um dies zu klären, wird ein weiterer Experte von RT hinzugeschaltet, er hat bemerkt, dass die Toten Zeichen tragen, weiße Armbinden, die auch die russischen Truppen verwenden. Deshalb sei es naheliegend anzunehmen, dass sich die Einwohner als prorussisch zu erkennen geben wollten. Die Schlussfolgerung ist klar, es können nicht die Russen gewesen sein, die prorussische Einwohner:innen erschossen haben. Das können nur Ukrainer:innen gemacht haben.
Nach zehn Minuten fragt der Moderator drittens nach historischen Analogien, nachdem im Intro bereits Fotos aus Srebrenica und Syrien zu sehen waren. Doch zunächst erkennt der Historiker eine Ähnlichkeit in der „Dramaturgie“ mit dem Massaker von Nemmersdorf vom 21. Oktober 1944. Damals waren in dem kleinen Dorf in Ostpreussen ungefähr 20 Menschen getötet worden, als die Rote Armee den Ort eingenommen hat. Die Nazipropaganda deutete die Ereignisse als gezielte Tötungen durch die Rote Armee, um die deutsche Bevölkerung gegen die vorrückenden Sowjettruppen zu mobilisieren. Goebbels Propagandaministerium liess nachträglich Aufnahmen mit Erschossenen anfertigen und verbreitete Berichte, in denen von Folterungen, Vergewaltigungen und Morden die Rede war.
Quelle: youtube
Wenn der russische Historiker diesen Nazivergleich herbeizieht, kann er gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Er stellt die Verbindung zwischen Ukrainern und Nazis her und er kann mit einer Halbwahrheit versuchen, die eigene Lüge glaubwürdig erscheinen zu lassen. Nicola Gess hat in ihrem Buch Halbwahrheiten Aussagen, die nur zum Teil falsch sind, als effektives Mittel des Lügens bezeichnet. Wenn, wie hier der Fall, korrekt über Nazipropaganda berichtet wird, kann somit auch die Interpretation der Fotos in Butscha nicht falsch sein. Halbwahrheiten gehören zu einem zentralen Mittel geheimdienstlicher Desinformation, die DDR-Stasi hat Desinformation z.B. als Kombination von «miteinander verbundenen wahren, überprüfbaren diskreditierenden sowie unwahren, glaubhaften, nicht widerlegbaren und damit ebenfalls diskreditierenden Angaben» bezeichnet.
Von dieser aufgestellten Halbwahrheit soll auch der nächste „Beweis“ noch profitieren, nämlich der Vergleich mit Srebrenica. Vom 11. bis zum 19. Juli 1995 wurden in Srebrenica mehr als 8000 Bosniaken von der Armee der Republika Srpska (Vojska Republike Srpske, VRS), der Polizei und serbischen Paramilitärs getötet, meist Männer und Jungen zwischen 13 und 78 Jahren. Die UN-Gerichte stuften die Morde als Genozid ein. In der Anti-Fake-Sendung aber soll auch dieser Genozid als Lüge des Westens dargestellt und Zweifel an der Beweisführung des Uno-Kriegsverbrechertribunals gesät werden. Schon 2015 scheiterte aufgrund eines Vetos von Russland eine Resolution des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen, die die Geschehnisse als Völkermord einstufte.
Emotionale Verkehrung
In der Mitte der Sendung folgt dann der eigentliche Plot: Der Westen arbeite historisch und aktuell mit Hass gegen Russ:innen und Serb:innen, seine Desinformation vertausche stets Wahrheit und Lüge. Dem Gegner, dem Westen, wird also konsequent das unterstellt, was man gerade selbst tut.
Die Umkehr richtet sich aber nicht nur, und das ist in der Sendung das Wesentliche, auf eine Umkehr von Realität und Fiktion, sondern auch auf eine Gefühlsumkehr. Die Gefühle sollen nicht den Toten in der Ukraine gelten, sie sollen nicht betrauert werden, die Gefühle für die Toten sollen nicht den Krieg, d.h. die angebliche „Rettung der russischsprachigen Bevölkerung“ in Zweifel ziehen. Vielmehr wird dem Westen unterstellt, dass seine Propaganda nur dazu da sei, die russische Bevölkerung emotional aufzuwiegeln, Hass gegen Russland zu schüren und, wie der Moderator meint, „emotionales Chaos“ hervorzurufen, das eine „rationale“ Einschätzung des Krieges bzw. der „Spezialoperation“ verhindere. Das Mitgefühl für die Toten wird so zu einem fremden, feindlichen, westlichen Gefühl. Gleichzeitig wird das „emotionale Chaos“, das die Sendung selbst hervorruft, dazu genutzt, die falschen Gefühle der Angst, Trauer und des Mitleids in Wut gegenüber jenen umzuwandeln, die die Morde dokumentieren, den „Westen“.
Wir haben es also mit einem emotionalen Tausch zu tun. Die russische Desinformation versucht genau dort zu entemotionalisieren, wo die Betrachter:innen etwas berühren müsste, nämlich nicht gleichgültig zu sein angesichts der Morde an der ukrainischen Bevölkerung im Namen des russischen Volkes. Stattdessen wird die potenzielle Trauer, bevor sie überhaupt aufkommen kann, in Wut gegenüber dem Westen verwandelt, die Nüchternheit beim Betrachten der Fotos hingegen als Objektivität gelobt.
Beunruhigend ist, dass dieser Blick nicht nur der russischen Bevölkerung aufgezwungen wird. Verschwörungstheoretiker:innen, rechte und linke Verteiler russischer Desinformation übernehmen diesen Blick und geben sich ganz im Sinne der russischen Regierung als kritisch, objektiv oder ausgewogen aus. Wenn Tendenziösität rhetorisch als objektiv und rational erscheint, der Glaube an Desinformation als Kritik, dann beginnt die russische Strategie zu wirken. Deshalb sollte man auch genau hinhören, von wem die deutsche Außenministerin wegen ihrer Gefühle kritisiert und der Kanzler wegen seiner Nüchternheit gelobt wird.
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- Lädt der forensische Blick nicht per se zu einer entemotionalisierten Perspektive ein? In wiefern ist das Beispiel der russischen Truppen im Donbas anders als das Beispiel von Bucha? Hier und dort schaut man doch ohne Emotionen auf die Dinge.
Die Intention ist aus meiner Sicht eine andere – hier versucht man die Wahrheit zu ergründen, dort geht es darum diese zu verschleiern bzw. den Leuten einzuimpfen – “Niemand kann die Wahrheit wissen.” ↩︎