Ein Gastbeitrag von Irina Chevtaeva
26.02.2024, 18.09 Uhr
Wenn die Journalistin Irina Chevtaeva nach Russland zurückkehrt, könnte sie verhaftet werden. Sie schämt sich für den Krieg gegen die Ukraine – und sie trauert: Denn Putin hat ihr das Zuhause genommen.
Ich stehe in der Schlange vor dem schwarzen Zaun und werde ungeduldig: Ich möchte schnell hinein in das graue Gebäude mit dem russischen Wappen am Eingang. Es ist das Konsulat in Frankfurt am Main. Mein Reisepass läuft ab und ich muss mir einen neuen besorgen – dabei gehen meine Gefühle durcheinander.
Ich schäme mich. Denn auf der anderen Straßenseite demonstrieren Ukrainerinnen gegen den Krieg. Es ist mein Land, das ihn angefangen hat. Ich sehe Dutzende Plakate mit den Bildern von zerstörten Städten, tote Erwachsene und Kinder. Es ist April 2022, die Kriegsverbrechen von Butscha sind gerade bekannt geworden.
Es ist nur eine Handvoll Menschen, die vor dem Konsulat protestieren. Sie haben Lautsprecher aufgestellt. Lieder auf Ukrainisch sind auf der ganzen Straße zu hören. Die Russen mit mir in der Schlange wenden den Blick ab. Ich sehe Slogans: »Hört auf, unsere Familien zu töten« Oder: »Es gibt keine guten oder schlechten Russen. Als die Schlechten uns töteten, schwiegen die Guten.«
Ich will einfach verschwinden. Aber ich muss ins Konsulat. Lange lebe ich schon in Deutschland, kann unmöglich zurück nach Moskau – aber die russische Bürokratie hat immer noch Macht über mich. Ich brauche einen neuen Reisepass, um meine Aufenthaltserlaubnis zu erneuern und weiterhin in Deutschland bleiben zu können. In Sicherheit.
Selbst im Gebäude ist die ukrainische Musik deutlich zu vernehmen. Aber alle tun so, als ob sie nichts hören. Ich auch. Ich bin in Russland groß geworden, ich kenne die Regeln sehr gut, die hier drin gelten: Ich sollte Ruhe bewahren, höflich sein und besser nicht widersprechen, auch wenn ich recht habe.
Wie aber sollte ich mich draußen verhalten? Ich habe das Gefühl, dass ich diesen Menschen – den Demonstranten mit ukrainischen Flaggen – zeigen muss, dass ich an ihrer Seite stehe. Und zwar von ganzem Herzen. Ich finde dafür keine Worte. Ich weiß nicht, ob es überhaupt passende gibt.
Aber ich gehe zu ihnen, bin froh, dass sie überhaupt mit mir reden. Ich erinnere mich nicht mehr genau an unser Gespräch. Aber ich kam mir ungeschickt vor. Ich habe mich bedankt, dass sie hier sind. Und dann realisiert: Ich tue das hier gar nicht nur für sie. Sondern auch für mich selbst. Jetzt schäme ich mich noch mehr.
Seit Russland vor zwei Jahren die Ukraine überfiel, plagen mich zwei Gefühle: Schmerz und Scham. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit, in Gesprächen mit Freunden, Kollegen, auf der Straße, bekenne ich: Meine Heimat hat einen blutigen Krieg begonnen, ich bin dagegen. Meine Heimat schafft einen Albtraum und ich kann das nicht ändern.
Schmerz und Scham
Ich spende für ukrainische Flüchtlinge, besuche Kundgebungen zur Unterstützung der Ukraine. Ich habe mich beobachtet: Ich möchte Distanz zwischen mir und dem, was meine Heimat tut. Aber ist das zu schaffen?
Äußerlich ja, ich lebe und arbeite seit neun Jahren als Journalistin in Deutschland. Aber innerlich: Ich bin eine russische Staatsbürgerin, ich wurde in Moskau geboren, bin dort aufgewachsen, habe dort studiert und die ersten Jobs gemacht. Wo auch immer ich bin, trage ich all die Erinnerungen mit: Der Geruch von Haferflocken mit Milch aus dem Kindergarten, der warme Mai in Moskauer Gartenring, als ich mich zum ersten Mal verliebte, die grünen Lampenschirme in der Universitätsbibliothek der Lomonossow-Universität
Aber mir klingen auch die Kommandos der Polizei noch in den Ohren, mit denen sie Demos für Alexej Nawalny auseinandertrieben. Ich war damals mittendrin. Und heute habe ich auch immer all die Bilder vor Augen, die mein Heimatland in der Ukraine hinterlässt, die Toten von Cherson oder Charkiv.
Februar 2023, ein Jahr nach dem Angriff: Eine Freundin, ebenfalls aus Russland, und ich gehen zu einem Solidaritätskonzert für die Ukraine in Köln. Ich war mir sicher: Hier ist muss mein Platz sein – bis die ukrainische Sängerin auf der Bühne sagt: »Ich wünsche jedem Russen den Tod.« Das trifft mich, aber wir bleiben trotzdem bis zum Ende bei der Veranstaltung. Ich grübele: Kann ich diesen Hass verstehen? Irgendwie Ja. Aber ich kann es nicht nachfühlen. Würde mein Tod der Ukraine oder den Menschen dort nützen? Natürlich nicht.
Hätte ich eigentlich etwas tun können, gegen Russlands Invasion in der Ukraine? Vielleicht. Darüber werde ich noch sehr lange nachdenken müssen. Intellektuell lehne ich das Prinzip der Kollektivschuld ab: Für mich bedeutet es, dass gleichzeitig jeder eine Schuld trägt – und niemand konkret. Aber ich fühle diese Kollektivschuld, weil ich Russin bin, wenn auch aus politischen Gründen im Exil.
Die Deutschen setzen Putin mit Russland gleich
Wladimir Putin hat Tausenden Menschen das Leben genommen, mir nur mein Zuhause und die Möglichkeit, meine Familie zu umarmen. Als Journalistin schreibe ich auf Russisch über den Krieg. Ich möchte, dass meine Mitbürgerinnen dort sich informieren können. Ich kann nicht in meine Heimat zurückkehren – aber sie ist ein Teil von mir. Deutschland lässt mich diesen Widerspruch nicht vergessen. Denn viele Deutsche setzen Putin und Russland gleich.
Hier finde ich mich plötzlich als Vertreterin Russlands wieder. Vor dem Krieg scherzten deutsche Männer auf Dates oft darüber, dass ich bestimmt gern Wodka trinke. Übrigens vertrage ich nicht viel, und das scheint für manche eine Art Enttäuschung zu sein. Heute höre ich auf jeder Party die Frage, was ich über Putin denke. Er begleitet mich, wenn Freunde immer wieder fragen, was die Russen so von ihm halten. Es gibt viele von ihnen, sie sind unterschiedlich, antworte ich dann. Für Nawalny, der in der Haft des Regimes gestorben ist, legen hunderte Russen Blumen nieder – trotz der Gefahr, verhaftet zu werden.
Vor zwei Jahren wurde ich in Deutschland oft gefragt: Wird es einen Krieg geben? Später: Wird es einen Atomkrieg geben? Und natürlich kommt danach: Vermisst du deine Familie? Und was denkt sie eigentlich über den Krieg?
Politisches wird schnell zu Persönlichem. Könnte ich Deutsche eigentlich die gleichen persönlichen Fragen stellen? Ich glaube nicht. Oder nur, weil ich als Ausländerin eine Art Welpenschutz genieße. Mit dem Angriff ist mir klar geworden, dass ich jetzt Deutschland zu meinem Zuhause machen muss.
Politisches wird zu Persönlichem
Im Herbst 2022 habe ich eine Nachricht aus meinem alten Zuhause bekommen: Mein Cousin wurde einberufen. Wir hatten nie wirklich Kontakt, damals allerdings habe ich mich bei ihm gemeldet. Ich wollte ihn überzeugen, dass er nicht in den Krieg zieht. Habe ich das für die Ukraine getan, für ihn oder für mich selbst?
Wahrscheinlich alles zusammen. Er ist doch in den Kampf gezogen – und im Sommer gefallen. Ich weiß nicht, wie ich das verarbeiten soll: Er ist tot – wie viele Ukrainer. Aber er hat auf der Seite der Täter gekämpft – der ich auch angehöre, sosehr ich den Überfall auf die Ukraine auch ablehne.
Ich werde dieses Jahr die deutsche Staatsbürgerschaft beantragen. Ich mache mir keine Illusionen: Ich werde lange auf sie warten – und dann trotzdem Russin sein. Aber wenigstens muss ich irgendwann nicht mehr zum russischen Konsulat.
About Irina Chevtaeva
Irina Chevtaeva, Jahrgang 1992, wurde in Moskau geboren. Sie studierte Journalismus an der Lomonossow-Universität, absolvierte Förderprogramme in Berlin und Oxford, war Korrespondentin für unabhängige Medien in Moskau. Seit 2015 arbeitet sie bei der »Deutschen Welle« mit dem Schwerpunkt Osteuropa.