MOSKAU-VERHANDLUNGEN – Die russischen Methoden
27.08.1957, DER SPIEGEL 35/1957
Abgehetzt, aber von einigen Beschwernissen befreit, kletterte der Botschafter Rolf Lahr am letzten Donnerstag in Düsseldorf die Gangway zur SAS-Kursmaschine Rom-Kopenhagen hoch, um über die dänische in die sowjetische Metropole zu fliegen. Die Rückkehr dieses Bonner Unterhändlers an den Konferenztisch des festgefahrenen deutsch-sowjetischen Handels- und Repatriierungs-Palavers unterschied sich merklich von dem Spektakel, das einen Monat vorher beim Aufbruch der bundesdeutschen Verhandlungsdelegation nach Moskau im gleißenden Licht der Jupiterlampen inszeniert worden war.
Diesmal hatte das Bonner Außenamt den Start seines Botschafters ängstlich verschwiegen. Die Geheimnistuerei ging so weit, daß der amtierende Pressechef des Auswärtigen Amtes, der Legationsrat von Haase, noch Stunden nach Lahrs Abreise die Wegspuren des Bonner Emissärs mit der falschen Auskunft zu verwischen suchte, der Botschafter sei von Köln-Wahn über Hamburg nach Helsinki geflogen.
Solche Deckungsmanöver werden einigermaßen verständlich, wenn man die Direktiven kennt, die das Bundeskabinett dem westdeutschen Verhandlungschef mit auf den Weg gegeben hat. Botschafter Lahr, der in Moskau schon zweimal eine Abfuhr hatte einstecken müssen, ist in Bonn nun nach seinem zweiten Zwischenbericht bevollmächtigt worden, die Forderungen der Bundesregierung in der Repatriierungsfrage auf einen realisierbaren Umfang zurückzuschrauben. Lahr hat jetzt Order, den Sowjets folgende Vorschläge zu unterbreiten:
- Die deutsch-sowjetischen Handels-, Konsular- und Repatriierungsverhandlungen werden bis zu den Bundestagswahlen am 15. September unterbrochen.
- Die Bundesregierung ist bereit, nach diesem Termin die Gespräche über den Gesamtkomplex wiederaufzunehmen, wobei jedoch auf die Repatriierung der sogenannten Administrativ-Umsiedler zunächst verzichtet werden soll.
Bei diesen Administrativ-Umsiedlern handelt es sich um jene sowjetischen Staatsangehörigen deutscher Abstammung, die nach dem Angriff auf die Sowjet-Union per Verwaltungsakt der deutschen Besatzungsinstanzen zu deutschen Staatsangehörigen ei hoben und in den von Hitler annektierten Teilen Polens angesiedelt worden waren. Das sind 50 000 von den insgesamt 84 000 Personen, über die in Moskau bislang diskutiert wurde. Sie haben ihre sowjetische Staatsangehörigkeit nach Sowjet-Staatsrecht nie verloren und wurden konsequenterweise nach dem Vormarsch der Sowjet-Armee aus Westpolen in die Sowjet-Union zurückgebracht. Anfangs hatte die Bundesregierung von den Sowjets gefordert, allen Sowjet-Bürgern, die – auch vorübergehend – bis zum 9. Mai 1945 nach deutschem Staatsrecht deutsche Staatsangehörige waren, die Ausreise nach Westdeutschland zu gestatten.
War schon dieser weitgehende Anspruch Bonns keineswegs dazu angetan, bei den Sowjets Gegenliebe zu finden, so stieß der zweite deutsche Vorschlag, mit dem der Botschafter Lahr nach seinem ersten Zwischenbericht von Bonn nach Moskau zurückbeordert wurde, bei den Sowjets alsbald auf ein empörtes »Njet«. Die Bundesregierung verlangte von der Sowjet-Regierung allen Ernstes, daß sie jedem Einwohner ihres Landes gestatte, auszuwandern wann und wohin immer er dies wünscht.
Dieses Ansinnen widersprach kraß den Grundprinzipien des Sowjet-Staates, die dem Sowjet-Bürger keinerlei Freizügigkeit über die Staatsgrenzen hinweg gewähren. Weit schlimmer noch: Das Bonner Verlangen mußte bei den Sowjets böse Erinnerungen wecken. Gustav Hilger, zwischen den Weltkriegen deutscher Botschaftsrat in Moskau, beschreibt in seinem Buch »Wir und der Kreml”1 jene unliebsame Begebenheit, die der zweite Bonner Vorschlag den Sowjets ins Gedächtnis zurückrief:
Auf einem . . . Gebiet erwuchsen der Botschaft große Ungelegenheiten, als sich im Herbst 1929 unter den deutschstämmigen Bauern in Sibirien, die unter den Folgen der Zwangskollektivierung schwer zu leiden hatten, das Gerücht verbreitete, daß von Moskau aus Auswanderungsmöglichkeiten nach Übersee beständen.
Auf dieses Gerücht hin setzten sich viele Tausende von Bauern, deren Zahl auf 13 000 bis 14 000 geschätzt wurde und die zum größten Teil Mennoniten waren, nach Moskau in Bewegung. Nach ihrer Ankunft lagerten sie in der Umgebung der Stadt, während ihre Delegierten die Botschaft mit Bitten bestürmten, den Flüchtlingen weiterzuhelfen.
Der damalige Landwirtschaftsattaché der Botschaft, Professor Otto Auhagen, nahm großes persönliches und sachliches Interesse am Schicksal dieser Bauern und setzte sich in seiner Berichterstattung nach Berlin sehr warmherzig für sie ein . . . Dies nahm ihm die Sowjetregierung sehr übel, und wäre er nicht ein exterritoriales Mitglied der Botschaft gewesen, hätte die GPU bestimmt Repressalien gegen ihn ergriffen…
Da sich die Entscheidung über eine Aufnahme der Flüchtlinge in Kanada verzögerte, gelang es nur, einen Teil von ihnen zu retten. Die restlichen etwa 7000 Menschen mußten den Rückweg in die Verbannung, Not und Tod antreten.
Kein Wunder, daß die im Westen selbstverständliche Parole der westdeutschen Unterhändler – nicht der Staat, sondern der einzelne Bürger darf ungeachtet seiner Staatsangehörigkeit entscheiden, wo er leben will – die Gemüter der sowjetischen Verhandlungspartner in Wallung brachte. Botschafter Lahr mußte sich von seinem Kontrahenten, dem stellvertretenden Außenminister Semjonow, sagen lassen, für Moskau gebe es überhaupt kein Repatriierungsproblem.
Der Botschafter beurteilte seine Lage richtig. Er drahtete mehrmals nach Bonn: Das abweisende Gebaren der Sowjets dürfe diesmal nicht mit ihren sonst üblichen Verhandlungsgepflogenheiten verwechselt werden; Moskau sei- klar entschlossen, in dieser Sache nicht mehr zu verhandeln; er, Lahr, sei praktisch »rausgeschmissen« worden.
In Bonn suchte man sich immer noch Mut zu machen. Außenminister von Brentano tönte: »Wir kennen die russischen Methoden. Ein Nein bedeutet bei ihnen nichts, selbst wenn sie zehnmal nein sagen sollten.« Pressechef von Eckardt fügte hinzu: »Wir müssen Geduld und Ruhe bewahren.«
Nun hatte es allerdings von Anfang an auch im offiziellen Bonn nicht an Stimmen gefehlt, die davor warnten, eine bundesdeutsche Delegation nach Moskau zu schicken, solange die Sowjets nicht verbindlich zugesagt haben, daß sie einen Repatriierungsvertrag abschließen würden. Diese Warnung kam mit besonderem Nachdruck aus der Ostabteilung des Außenamtes. Dort hatte man nämlich bei einer Analyse des Vorgeplänkels gemerkt, daß sich die Sowjets im Hin und Her der Präliminarien lediglich dazu bereit erklärt hatten, die Heimführung einzelner Personen deutscher Nationalität zu besprechen. Dagegen war niemals versprochen worden, ein Repatriierungs-Abkommen zu schließen.
Aber alle diese Warnungen wurden nicht gehört. Im Gegenteil, Kanzler Adenauer verstieg sich zu der Prophezeiung, das Verlangen der Sowjets nach einem Handelsabkommen mit der Bundesrepublik sei so mächtig, daß die Sowjets schon deshalb in der Rückführungsfrage zu ungewöhnlichen Zugeständnissen bereit sein würden.
Des Kanzlers Wirtschaftswunder-Glaube wurde von dem Vertriebenenminister Oberländer noch genährt. Oberländer fungierte unter Hitler als Führer des »Bundes Deutscher Osten«. Er war es denn auch, der Konrad Adenauer in der Absicht bestärkte, die deutschen Forderungen in der delikaten Repatriierungs-Sache hochzuschrauben und auch die Umsiedlung jener Sowjet-Bürger deutscher Abstammung zu verlangen, deren sowjetische Staatsangehörigkeit unbestritten ist.
Selbst als Botschafter Lahr, zum zweitenmal zwecks Berichterstattung nach Bonn zurückgeholt, am Dienstag vergangener Woche den Bundesministern in einer Kabinettsitzung klarmachte, daß die deutschen Unterhändler von den Sowjets ausgesprochen demütigend behandelt worden seien, hielt Oberländer noch immer an seiner durch das Moskauer Debakel überholten Konzeption fest.
Ausweg Rotes Kreuz
War es der deprimierende Vortrag des Botschafters, oder war es der Einwand einiger Minister, man könne von den Sowjets das Einverständnis zu einer Massenumsiedlung nach dem Muster »Heim ins Reich« wohl kaum noch erwarten, oder war es Rücksicht auf die Wahlen, – Kanzler Konrad Adenauer beschied sich schließlich doch damit, den Botschafter Lahr diesmal mit bescheideneren Ansprüchen an den Moskauer Verhandlungstisch zurückzuschicken. Das Kabinett beschloß, bei den Repatriierungs-Verhandlungen nach der Bundestagswahl den Rahmen enger zu ziehen und die . Administrativ-Umsiedler zunächst beiseite zu lassen.
Obgleich man nun die Verhandlungen in Moskau unverzüglich hätte fortsetzen können, faßte das Kabinett noch einen Beschluß, der die »verletzte Ehre« der deutschen Delegation reparieren soll. Bundespressechef von Eckardt verkündete – noch ehe dieser Beschluß den Sowjets offiziell mitgeteilt werden konnte – als seine »persönliche Ansicht”: »Ich möchte sagen, daß ich es vielleicht für wünschenswert hielte, wenn man für einen gewissen Zeitraum die Verhandlungen aussetzt.«
Weit weniger mitteilungsbereit zeigten sich die Bonner Offiziellen freilich, als es darauf ankam, die Öffentlichkeit über den letzten Schritt Moskaus zu informieren, der durchaus geeignet scheint, die heikle Repatriierungssache voranzubringen. In aller Stille haben nämlich die Sowjets in der vorletzten Woche die Vereinbarung ratifiziert, die am 21. Mai dieses Jahres von ihrer Rot-Kreuz-Gesellschaft mit dem Deutschen Roten Kreuz in München getroffen worden war. In diesem Übereinkommen verpflichten sich das Sowjetische Rote Kreuz und das Deutsche Rote Kreuz, nicht nur die Repatriierung der noch in der Sowjet-Union lebenden deutschen Staatsangehörigen, sondern auch die Umsiedlung jener Personen deutscher Nationalität zu unterstützen, »die Sowjet-Bürger oder Staatenlose sind«.
Botschafter Rolf Lahr hatte noch keine Gelegenheit, seinen sowjetischen Verhandlungspartnern in Moskau die neuen deutschen Vorschläge zu erläutern, als die Sowjet-Botschaft am Rhein bereits wissen ließ, daß die Repatriierungsfrage nur auf dem halbamtlichen, quasi unpolitischen Weg, den die beiden Rot-Kreuz-Verbände geöffnet haben, gelöst werden könne.
1 Gustav Hilger: »Wir und der Kreml«; Alfred Metzner Verlag, Frankfurt (Main)/Berlin, 1955.