Es gibt nur eine Antwort auf den Tod von Alexej Nawalny

Ein Kommentar von Mathieu von Rohr
18.02.2024

Putin inszeniert sich als Herr über Leben und Tod, in Russland und in der Ukraine. Eine Welt, in der er sich durchsetzt, wäre nicht mehr die Welt, die wir kennen. Die Europäer stehen deshalb jetzt vor einer historischen Entscheidung.

»Putin ist ein Mörder«: Protest vor der russischen Botschaft in Berlin Foto: Clemens Bilan / EPA



Wladimir Putin hat im Lauf seiner Herrschaft vor allem das Töten perfektioniert: das Töten politischer Gegner und »Verräter« im eigenen Land. Und das Töten von Ukrainern, die für seinen imperialistischen Angriffskrieg auf das Nachbarland sterben müssen.

Oppositioneller Nawalny bei einem Auftritt vor Gericht in Moskau im Februar 2021

Ausgerechnet während der Münchner Sicherheitskonferenz, auf der westliche Politiker über ihre Strategie beraten wollten, kam Ende der Woche alles zusammen, was Putins Schreckensherrschaft ausmacht.

Erst starb am Freitag Alexej Nawalny, der einzige ernst zu nehmende russische Oppositionspolitiker, auf mysteriöse Weise in einer sibirischen Strafkolonie.

Was auch immer die medizinische Ursache für sein Ableben gewesen sein mag, klar ist jetzt schon: Er wurde, auf die eine oder andere Weise, ermordet vom Regime Wladimir Putins.

Am Samstag musste, zweitens, die ukrainische Armee die Stadt Awdijiwka in der Ostukraine den russischen Angreifern überlassen, die sie unter gewaltigen Verlusten eroberten. Die Stadt war für die Ukrainer nicht mehr zu halten, weil nach der Blockade der Ukrainehilfen im US-Kongress durch die Republikaner die westlichen Munitionslieferungen ausblieben.

Julija Nawalnaja, die Ehefrau des verstorbenen Politikers Nawalny, am Freitag auf der Münchner Sicherheitskonferenz Foto: Marc Mueller / MSC / EPA

Gleichzeitig fand die Münchner Sicherheitskonferenz statt, jene alljährliche Tagung, auf der die Rolle des Westens beschworen wird – und auf der die dort versammelten Regierungschefs und Minister trotz der Ereignisse unfähig schienen, in dieser historisch entscheidenden Situation ins Handeln zu kommen. Im erschütterndsten Moment der Tagung trat am Freitag Nawalnys Witwe, Julija Nawalnaja, vor die versammelten Regierungschefs, Minister und Außenpolitikexperten. Noch gezeichnet vom Schock der Nachricht kündigte sie Putin mit bebender Stimme an: Er werde für seine Taten bezahlen müssen.

Doch schon lange waren die Zweifel nicht mehr so groß wie heute, ob Putin wirklich für irgendetwas, was er tut, büßen muss – und ob die westlichen Staats- und Regierungschefs Putins großem imperialistischem Plan eigentlich noch etwas entgegenzusetzen haben.

Zerstörte Häuser im ukrainischen Awdijiwka Foto: RFE / RL / Serhii Nuzhnenko / REUTERS

Zwei Jahre nach dem Beginn des russischen Angriffskriegs, ein halbes Jahr nach der Niederschlagung des Aufstands von Jewgenij Prigoschin und kurz vor seiner inszenierten Wiederwahl im März stellt sich Putin wieder als unantastbarer Führer dar, der tun und lassen kann, was er will. Die Ohnmacht der westlichen Allierten, eine Folge der innenpolitischen Lähmung der USA, verstärkt diesen Eindruck.

Das putinsche Regime zelebriert dagegen straflos seine Grausamkeit. Es bombardiert nach Belieben ukrainische Zivilisten, zerstört ihre Städte. Und sein Regime vergiftet einen Oppositionellen mit einem chemischen Kampfstoff, steckt ihn nach seiner Rückkehr in folterähnliche Einzelhaft in Sibirien, wo es ihn nicht brechen kann, aber in Raten tötet. Am Ende schickt es die Mutter des Verstorbenen auf eine Schnitzeljagd auf der Suche nach seiner Leiche und verwehrt es ihr, ihren toten Sohn zu sehen.

Eine vollständige präsidiale Immunität, wie sie in den USA Donald Trump derzeit vor Gericht für sich beansprucht – Wladimir Putin zeigt, wie sie aussieht

Diese Grausamkeit darf niemanden überraschen. Scholz sagte in seiner Reaktion auf die Todesnachricht von Nawalny: »Spätestens jetzt wissen wir ganz genau, was das für ein Regime ist«. Doch natürlich wissen wir – und auch Scholz – das schon sehr viel länger.

Die Ermordung Nawalnys, die brutale Verfolgung jeglicher Art von Opposition in Russland, sowie Putins Eroberungskrieg in der Ukraine gehören untrennbar zusammen. Sie alle sind Elemente von Putins neozaristischem und neostalinistischem Plan, in dem es kein Existenzrecht für irgendeine Form von Opposition gibt und in dem die ganze Nation im Dienst eines blutigen Eroberungsfeldzugs steht.

Präsident Putin am 9. Februar im Gespräch mit dem Ex-Fox-News-Moderator Tucker Carlson Foto: Gavriil Grigorov / SPUTNIK / KREMLIN / EPA

Putin sieht sich auf einer historischen Mission, das russische Reich wieder zu errichten. Das begründet er – wie neulich im Gespräch mit dem US-Propagandisten Tucker Carlson – mit einer selbst erfundenen Version der Geschichte, die 1000 Jahre zurückreicht. Das wirkt wahnhaft, gar verrückt, spielt aber keine Rolle, weil Putin selbst daran glaubt. Und es geht Putin längst nicht nur um die Ukraine. Es ist sicherlich kein Zufall, dass Putin in seinem sogenannten Interview immer wieder gegen Polen hetzte und es sogar dafür verantwortlich machte, dass Hitler es 1939 angriff. Die estnische Premierministerin Kaja Kallas hat Russland derweil auf eine Fahndungsliste gesetzt.

Es ist bemerkenswert, wie viele schon wieder verdrängt haben, was Wladimir Putin vor seinem Angriffskrieg vor zwei Jahren forderte: Er erhob nicht nur einen Anspruch darauf, die Ukraine – die er als russisches Territorium sieht – zu kontrollieren. Sondern er verlangte auch, dass die Nato ihre osteuropäischen Mitglieder im Stich lässt und sie einer russischen Einflusszone überlässt.

Es ist wichtig, das nicht zu vergessen. Denn genau aus diesem Grund führen die Vorschläge von Appeasement-Vertretern weit an der Realität vorbei. Sie hoffen immer noch, mit Putin verhandeln zu können und ihn befrieden zu können, indem sie ihm einen Teil des ukrainischen Territoriums überlassen. Ganz abgesehen davon, dass er noch nie ernsthafte Anzeichen für Verhandlungswillen gesendet hat: Es wäre ohnehin nichts anderes als eine Kapitulation, Putin in diesem Moment der westlichen Schwäche um Verhandlungen zu bitte

Putin will die Ukraine kontrollieren und die von ihrer Bevölkerung gewollte Westbindung rückgängig machen. Er hat immer wieder den Zerfall der Sowjetunion als die »größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts« bezeichnet, als den Untergang des »historischen Russlands«. Zu dessen Wiederherstellung gehört für ihn die Erneuerung russischer Herrschaft über weite Teile Osteuropas, auch über EU-Mitgliedsländer.

Spanisches Luftverteidigungssystem auf einem Luftwaffenstützpunkt in Lettland Foto: Toms Kalnins / EPA

Wie also gehen wir mit einem Herrscher um, der die ganze Welt wissen lassen will, dass er mit allem straflos davonkommt? Es gibt nur einen Weg: Ihm zeigen, dass er nicht straflos davonkommt – und ihm in der Ukraine eine Niederlage beibringen.

Europa hat nur die Wahl, Putin mit aller Macht Grenzen aufzuzeigen – oder sich Putins Machtanspruch und Geschichtsbild zu fügen. Eine Welt, in der Putin sich durchsetzt, wäre nicht mehr die Welt, die wir kennen.

Die Europäer haben in den vergangenen zwei Jahren viel unternommen, um der Ukraine zu helfen. Aber sie haben dennoch weder genug in die eigene Verteidigung investiert noch genügend getan, um die Ukraine ausreichend mit Waffen und Munition auszustatten. Nun, da die USA wegen Donald Trump und der Republikaner ausfallen, wirken sie orientierungslos.

Ukrainische Soldaten mit einem Leopard-1-Panzer in der Region Charkiw Foto: Anatolii Stepanov / AFP

Europa ist allerdings reich und mächtig genug, um die Ukraine zur Not allein in ausreichendem Maße zu unterstützen, selbst wenn die USA dauerhaft ausfallen sollten – es ist eine Frage des politischen Willens. Und wenn die Zukunft des Kontinents auf dem Spiel steht, dann ist doch verwunderlich, dass der politische Wille nicht größer ist: Die Wirtschaftsleistung der EU beträgt ein Zehnfaches von Russland.

Die Europäer hätten längst alles unternehmen müssen, um die nötigen Rüstungsgüter zu bestellen, in ihre Produktion zu investieren oder sie auf dem Weltmarkt zusammenzukaufen. Doch das haben sie nicht getan, nicht einmal die am dringendsten benötigte Artilleriemunition konnten sie besorgen. Das ist alarmierend. Nehmen sie ihre Verteidigung und die Verteidigung der Ukraine wirklich ernst genug? Es scheint nicht so.

Warum Deutschland noch immer nicht die dringend benötigten Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine liefert, hat Scholz noch immer nicht verständlich erklärt. Und dass Frankreich, was die Unterstützung der Ukraine angeht, so weit hinter Deutschland zurückliegt, lässt sich auch nicht damit vergessen machen, dass Macron dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj im Elysée einen prunkvolleren Empfang bieten kann als Scholz im Kanzleramt. Die Sicherheitsabkommen, die Berlin und Paris den Ukrainern angeboten haben, sind im Moment wenig mehr als ein Placebo.

Ukrainischer Präsident Selenskyj, Bundeskanzler Scholz bei ihrem Treffen am Freitag in Berlin Foto: Kay Nietfeld / dpa

Rhetorisch sagen Frankreichs Präsident Emmanuel Macron oder Bundeskanzler Olaf Scholz oft die richtigen Dinge. Sie verweisen auf die Natur von Putins Regime und auf die Notwendigkeit, ihn zu stoppen, weil sonst die Freiheit in Europa in Gefahr wäre. Doch Worte entscheiden keinen Konflikt. Es reicht nicht, die richtigen Dinge zu sagen, man muss sie auch tun.

Nach dem Schock von München – nach dem Tod von Nawalny und dem Zusammenbruch der ukrainischen Verteidigung bei Awdijiwka – stehen Scholz und die westlichen Regierungsverantwortlichen deshalb vor einer Zäsur.

Wenn sie nicht in der Welt von Wladimir Putin leben wollen, wenn sie ihre Worte ernst meinen, dann müssen sie jetzt alles tun, was möglich ist. Und zwar dort, wo dieser Konflikt um die Seele Europas entschieden wird: in der Ukraine.